Drehbuch: „Vor uns lag Magadan“
Transport nach Kolyma

Wegen der geografischen Lage von Kolyma konnten Fracht und Arbeitskräfte, einschließlich Gefangener, vom Festland nur auf dem Seeweg dorthin kommen. Der Transport erfolgte von Wladiwostok aus zur Nagajew-Bucht. 1945 wurde der Hafen Wanino eröffnet.

Semjon Kolegajew, geb. 1920, Teilnehmer am 2. Weltkrieg. Er geriet in Kriegsgefangenschaft, aus der er entkommen konnte. Das Kriegsende erlebte er in Japan. 1947 verhaftet, zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. 1949 Transport von Dalni (China) über Wladiwostok zur Nagajew-Bucht.
Michail Tamarin, geb. 1912, Student, verhaftet in Moskau. War fünf Jahre in den Lagern von Kolyma inhaftiert. 1951 zum zweiten Mal verhaftet und zu unbefristeter Verbannung in die Region Krasnojarsk verurteilt. Transport von Moskau über Wladiwostok zur Nagajew-Bucht im Dezember 1937.
Jelena-Lidija Posnik, geb. 1924. 1942 befand sie sich auf besetztem Gebiet. 1945 wurde sie verhaftet und zu 15 Jahren Katorga-Arbeiten verurteilt. 1949 war sie auf dem Transport von Taischetlag über den Hafen Wanino zur Nagajew-Bucht.
Vitautas Kasjulenis, geb. 1930. 1947 wurde er mit seinen Eltern aus Litauen ins Gebiet Tjumen deportiert. Er trat der Organisation „Eid in der Verbannung“ bei. 1951 wurde er verhaftet und zur Erschießung verurteilt. Die Todesstrafe wurde in eine 25jährige Lagerhaft umgewandelt. 1953 nahm er teil am Aufstand in Norilsk. 1954 wurde er nach Kolyma transportiert. 1958 wurde er aus der Haft entlassen.
Nikolai Prjadilow, 1943 als 16jähriger verhaftet. Er wurde zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt und 1949 aus dem Oserlag (Seelager, Gebiet Irkutsk) nach Kolyma transportiert.
Juri Fidelgolz, geb. 1927. Student an einer Theaterfachschule. Er wurde 1948 wegen der Gründung einer antisowjetischen Organisation verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. 1950 Transport aus dem Oserlag (Seelager, Gebiet Irkutsk) nach Kolyma.
Algerdas Untanas, geb. 1929, wurde 1951 verhaftet wegen Verbindung zu litauischen Partisanen. Er wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt. 1953 Transport aus Norilsk nach Kolyma .

Semjon Kolegajew
Und dann brachte man uns also per Schiff, mit der „Stepan Rasin“, nach Wladiwostok. Auf dem Schiff gab es einen Aufstand. Das waren aber nicht wir. Wir haben die Kriminellen geschlagen. Man hatte uns im Schiff mit einer Bande zusammen untergebracht.
Die haben uns weidlich ausgeraubt und erniedrigt. Sie stahlen unseren Zucker, nahmen sich das, was uns zustand. Sie nahmen sich alles.
Auf dem Schiff waren drei Emigrantinnen, eine war 18, eine 35, und die dritte wahrscheinlich etwa 28 oder 25. Sie waren mit einem Strick von uns getrennt. Auf dieser Seite war die Wache, mit Waffen.
Die Toilette war ein Fass, ein Kübel, davor hing ein Segel, um ihn abschirmen. Und sie gingen zur Toilette. Die Banditen packten und vergewaltigten sie auf der Stelle, in unserem Beisein. Unmittelbar dort. Sie weinten und flehten. Die Wache sah zu, der Kommandeur unternahm nichts. Er tat gar nichts, verstehen Sie. Unter uns war ein Artillerist, ein Erkundungsflieger, Major Bulygin. Er initiierte das. Wir sind mehr. Sie sind elf, und wie viele sind wir? Wir müssen sie auf Kommando angreifen, vor dem Frühstück, sie schlagen, es ihnen geben. Und es kam so. Wir stürzten uns auf sie. Die Wachleute waren noch jung und unerfahren. Als sie davon stürzten, vergaßen sie ihre Waffen dort in der Ecke. Sie stürzten fort.
Kurz, wir kamen nach Wladiwostok, das Schiff hielt. – Wir schauten raus, da standen bereits Autos, Soldaten, Schützenpanzerwagen oder wie man die nennt, weiß der Teufel. Sie warteten schon auf uns. Wir hatten ja einen Aufstand angezettelt. Es kam ein Oberst, mit ihm Soldaten, und noch ein Rang.
„Nehmt ihnen die Waffen ab.“ Sie entwaffneten die Soldaten, die welche trugen, und nahmen sie fest. Sie nahmen sie fest, und uns transportierten sie weiter.

Michail Tamarin
Wir kamen schließlich in Wladiwostok an und kamen dort in eine riesige Durchgangszelle.
Eine riesige Durchgangszelle. In dieser Zelle waren übrigens viele interessante Leute, darunter einer, der völlig heruntergekommen und entkräftet war, ganz vernachlässigt und verschmutzt. Das war ein Bruder von Lew Kassil.
Danach sollten wir verladen werden. Wir gingen zu Fuß durch Wladiwostok zum Hafen, zum Schiff.

Jelena-Lidija Posnik
Sie brachten uns zur Bucht von Wanino. Aus irgendeinem Grund wurde sie bei uns auch Tischkingrad genannt. Das ist ein riesiges Transitlager am Ufer der Meerenge von La Pérouse. Dort blieben wir den ganzen Sommer. Den ganzen Sommer. Sie schickten uns nur – wissen Sie wohin? Wir bekamen sehr gut zu essen, und wir wuschen uns im Regen, weil es da solche Wolkenbrüche gab. Wenn man rausging – wir waren ja nur Frauen. Wir konnten uns waschen so viel wir wollten.
Wir kamen auf das Schiff „Felix Dzierzynski“. Das war ein erbeutetes deutsches Schiff mit vielen Stockwerken. Natürlich kamen wir ins unterste Stockwerk.

Vitautas Kasjulenis
Ich habe damals zum ersten Mal ein Hochseeschiff gesehen. In Tobol verkehrten natürlich Flussboote, Flussdampfer.
Da war ein Schiffsbauch mit mehreren Etagen, dieses Schiff. Wir kletterten auf dem Fallreep nach oben, auf die vierte putty , fünfte Etage. Das war schon ein Hochseeschiff.

Nikolai Prjadilow
Aber da tummelten sich die Kriminellen. Ich habe darüber auch geschrieben. Sie begaben sich über die Ventilation – die Ventilationsrohre – in einen anderen Schiffsraum, wo sich Lebensmittel befanden. Und sie holten die Lebensmittel in unseren Raum. Büchsenfleisch, Konsensmilch und (lacht). Das waren Profis, überall Profis. Der Dieb hatte was zum Stehlen gefunden.
Und wir gerieten im Ochotskischen Meer in einen Sturm, welche Windstärke, weiß ich nicht. Es war Sturm. Unser halber Schiffsbauch lag flach.

Vitautas Kasjulenis
Als dann noch ein Sturm einsetzte – ich habe das in Erinnerung – man wird von den Pritschen weggerissen, und wenn das Schiff sich aufbäumt, fliegt man wer weiß wohin. Und essen, ich weiß nicht, essen konnte kaum jemand.

Jelena-Lidija Posnik
Zwei Tage konnten wir aus diesem La Pérouse nicht auslaufen. Schließlich liefen wir aus. Als wir ins offene Meer kamen, sagte man uns: „Wer frische Luft schnappen will, kann kommen.“ Wie wir dahin kamen, wie wir auf Deck kletterten, weiß ich nicht mehr. Ich gelangte auf irgendein Deck und legte mich hin. Ich hatte keine Kraft mehr. Man brachte Suppe. Kein Essen, ich brauche nichts. Der Himmel sieht aus wie ein Dreieck.

Juri Fidelgolz
Wir waren schon ungefähr anderthalb Wochen, vielleicht auch zwei Wochen unterwegs.
Anfangs war sehr starker Seegang, als wir die Meerenge von La Pérouse schon passiert hatten. In der Nähe vom Hafen Nagajew, also da, bei Magadan, schon im Ochotskischen Meer tauchten diese Eis-Quarktaschen auf, solche Eisschollen. Warum nannten wir sie Quarktaschen? Weil sie an den Enden so ähnlich aussahen. Sie wurden vom Wasser überspült. Dieses Wasser, das Oberflächeneis, bildete sich an den Rändern, und die Eisscholle sah dann aus wie eine Quarktasche. Und dann gefroren sie, schon in der Nähe des Ufers bildeten sie ein ganzes Feld.
Vor uns fuhr ein Eisgang, der alles aufbrach.
I. O.: Ein Eisbrecher.
Ein Eisbrecher, ein Eisbrecher, der das Eis aufbrach, und wir fuhren auf einer vorbereiteten Strecke, die der Eisbrecher freigemacht hatte.

Vitautas Kasjulenis
Sie haben Folgendes gemacht. Man transportierte da Gefangene, weil es Pritschen gab. Von diesen Pritschen nahmen sie sich harte Bretter und zerschlugen die Ventilationsrohre. Es waren ja Seeleute dabei, die kennen die Verhältnisse auf den Schiffen und wissen, was sich wo befindet. Sie zerschlugen sie. Von oben sahen Soldaten, dass Gefangene auf dem Deck herumlaufen. Durch diese …. Wir hörten, dass sie aus Maschinengewehren Schüsse abgaben, in die Luft. Sie haben niemanden umgebracht, es ging ja in die Luft. Kurz, als wir schon in Magadan ankamen, hieß es, die japanischen Inseln seien nicht weit, das Ochotskische Meer, und da kam der Gedanke auf, man könnte das Schiff kapern und sich nach Japan begeben.

Michail Tamarin
Das Schiff hieß „Kula“. Ja, dieses Schiff brachte uns zur Nagajew-Bucht, nach Magadan.
Wir umschifften die japanischen Inseln, und bei diesen Inseln zog die gesamte Wachmannschaft Zivilkleidung an. Uns war verboten, auf Deck zu gehen. Wir saßen im Schiffsraum, verstehen Sie, mit diesen eisernen Wänden, bei Frost. Es war schrecklich.
Am 25. Dezember, nachts, kamen wir in Magadan an und wurden ausgeladen. An der Nagajew-Bucht anscheinend, ja.

Algerdas Untanas
Wir fuhren auf einem Lastkahn, und auf dem Kahn begannen sie zu schießen.
Die Amerikaner hatten das Hoheitsgebiet verletzt. Also Flugzeuge hatten es überflogen. Am Ufer schien niemand zu sein. Als aber die Flugabwehr losging, war es voll von denen, von der Grenz-Flugabwehr.
Das Flugzeug flog nicht hoch, aber sie haben es nicht getroffen. Danach gab es Noten im Jahre 1953, dass sie die Grenze verletzt hätten.
Ich habe selbst gesehen, dass das Ufer offenbar leer war, aber als sie loslegten, als das Flugzeug auftauchte, waren da nur noch Rauch, Schüsse.
Alle kamen in Bewegung, ich sah mich auch nach einem Rettungsring um, im Notfall würde ich so durchkommen, mit dem Ring schwimmen. Man munkelte, die Amerikaner würden uns da befreien. Warum schossen sie denn? Wir landeten in Magadan, kamen zum Bergbau.

Semjon Kolegajew
Was richteten sie auf dem Weg an! Sie schlugen uns mit Hämmern. Sie prüfen die Bohlen. Es waren solche Holzhämmer. Sie prüfen die Bohlen, ob sie nicht angesägt waren. „Nach links!“ Während wir nach links rennen, verpassen sie uns fünf Schläge auf den Rücken. Es war ein Horror. Dann kam der Transport. Sturm kam auf, den Leuten wurde schlecht, die Fässer kippten um, diese Kübel. Die ganzen Exkremente ergossen sich im Schiffsraum. Die Leute waren durchnässt, seekrank. Ich nicht. Ich war nicht seekrank.
Kurz, sie wollten ausladen, und die Leute gingen nicht raus. Da warfen sie ein Netz aus und wickelten die Leute hinein. Und „rauf“, „runter“, sie hoben es an und schütteten sie wie Holz ins Auto, auf die Ladefläche.

Jelena-Lidija Posnik
Irgendwie kamen wir in ungefähr zehn Tagen nach Magadan. In Magadan ist die Nagajew-Bucht. Wir kamen also an. Uns erwarteten Offiziere in schneeweißen Halbpelzen. Sie sahen adrett aus, stattlich. Und wir, können Sie sich das vorstellen?

Vitautas Kasjulenis
Wie transportieren sie uns – es dauerte zehn Tage bis Magadan. Als wir in Magadan ausgeladen wurden, mussten wir drei Kilometer bis zum Lager gehen. Dort hatten sie ein leeres Lager für uns vorbereitet. Überall wurden die „Gäste“ erwartet. Auf dem Weg dahin brauchten wir wahrscheinlich für diese drei Kilometer drei Stunden. Wir hatten ja schon ungefähr 6000 km von Krasnojarsk nach Sowjetskaja Gawan und dann hier zehn Tage hinter uns. Alle waren völlig erschöpft. Wir konnten kaum noch gehen. Ob die Soldaten schrien oder nicht, was war das schon.

Michail Tamarin
Als sie uns ausluden, waren wir alle in unserer Zivilkleidung. Es herrschte schrecklicher Frost. Es war der 25. Dezember, und während wir darauf warteten, aus diesem Schiff aussteigen zu können, erlitten viele Erfrierungen, besonders an Nase, Ohren, und einige an Fingern und Zehen, je nachdem, es war schrecklich.
Der Schnee lag an einigen Stellen bis zu fünf Meter hoch, es gab Schneesturm, ja. Ich habe diese schreckliche Nacht natürlich in Erinnerung. Viele, viele brachten sie weg, wegen Erfrierungen, und brachten sie in eine Zelle. Aus der Zelle holte man uns der Reihe nach und verteilte uns auf die Goldminen. Unsere Mine war Werchni at-Urajach, da kamen meine Kameraden und ich zusammen hin. Man zwang uns, im offenen Wagen zu sitzen, und die Wache saß im Pelzmantel im Warmen. Wir waren zwei oder drei Nächte unterwegs zur Mine. Auf dem Weg gab es spezielle Stellen zum Aufwärmen, da stiegen wir aus. Wir baten: „Gehen wir besser zu Fuß, das ist besser als hier zu hocken und zu frieren.“ Um keinen Preis. So kamen wir zur Goldmine. Ich bin heil angekommen, war ganz heil. Ich hatte keine Erfrierungen.

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)
Iwan Kupzow (Moskau)
Wiktor Griberman (Riga)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Dr. Vera Ammer (MEMORIAL – Euskirchen)

© MEMORIAL International 2012

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