Sergei Schtscheglow erinnert sich:
Im Schiff „Josef Stalin“

Sergei Schtscheglow wurde 1921 geboren, seine Eltern waren Dorfschullehrer. 1937 wurden sie Opfer von politischer Verfolgungen, der Vater wurde erschossen und die Mutter zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Sie starb im Lager.
Sergei wurde am 22. Juni 1941 verhaftet, am ersten Kriegstag. Er wurde zu 5 Jahren Besserungsarbeiten im Lager verurteilt, die er in Norilsk verbüßte. Sergei Schtscheglow ist Mitglied des Schriftstellerverbandes, Autor von 16 Büchern, sein Hauptthema sind die politischen Verfolgungen in der UdSSR.
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Meine Mutter war Alexandra Karatajewa. Sie stammt aus einer Bauernfamilie.
Meine Mutter hat in Murom das Gymnasium besucht und arbeitete bis 1918 als Dorflehrerin. Irgendwann 1919 oder vielleicht auch 1920 heiratete sie Lew Schtscheglow, Genaueres weiß ich dazu nicht. Ich wurde 1921 in Ljachi geboren. Vier Jahre später brach die Familie auseinander.
Mein Vater Lew Schtscheglow schloss sich einer der revolutionären Bewegungen an, insbesondere den Sozialrevolutionären. Das erfuhr ich erst, als ich bereits selbst verhaftet wurde, mir sagte der Untersuchungsrichter, mein Vater sei Sozialrevolutionär gewesen. Er fand eine Stelle als Dorflehrer und arbeitete dann sein ganzes Leben als Lehrer, er leitete Schulen auf dem Land in seiner Heimatregion von Ljachi. 1937 wurde er auf Grund einer Verleumdung verhaftet und nach einigen Monaten als Volksfeind erschossen. Die schwerwiegende Anklage war, er habe die sowjetische Schule unterminiert, also antisowjetische Agitation betrieben usw. Sie erschossen ihn am 8. September 1937 in Gorki.
Mama wurde nach der Etablierung der Sowjetmacht sehr religiös, sie praktizierte den Glauben. Der Glaube war in ihr natürlich schon von ihrer bäuerlichen Familie her angelegt, aber jetzt nahm der Glaube gewissermaßen übersteigerte Formen an. Das wirkte sich auf ihr soziales Verhalten aus. Sie weigerte sich, in einer sowjetischen Schule zu unterrichten, weil man dort die Kinder gottlos erziehen müsste, wie sie sagte. Sie konnte sich das nicht erlauben und begann, ihren Lebensunterhalt als Schneiderin zu verdienen. In den Kellern solcher kleiner Dorfhäuser in Murom, wo man preiswert wohnen konnte, verlief dann meine Kindheit. Mama verbrachte ihre ganze Freizeit in der Kirche, sie verkehrte mit Geistlichen und mit anderen Gleichgesinnten. Sie nahm auch mich mit in die Kirche. Sie träumte davon, dass ich ein gläubiger Mensch und vielleicht sogar Geistlicher werden würde, das war ihr Traum. Auf ihre Veranlassung diente ich bei Geistlichen, bei den Erzbischöfen von Murom. Ich wurde zum Chorknaben geweiht, so etwas gibt es in den kirchlichen Riten, dann kam noch eine Stola zu dem Chorgewand dazu, ich machte also schon so meine ersten Schritte als junger Geistlicher.
Ich war bekannt, auch unter Gleichaltrigen. Ich erinnere mich, wie ich aus der Kirche kam und mir die Jungen nachriefen: „Pope Sergei! Pope Sergei! Sergei ist Diakon und Küster.“ Damals galt das als Schande.
So ging das bis August 1937. Am 9. August wurde Mama verhaftet. Soweit ich verstanden habe, liefen alle Anschuldigungen darauf hinaus, dass sie den Glauben praktizierte, mit Gleichgesinnten verkehrte, und dann (ich habe Jahrzehnte später ihre Akte gesehen) warf man ihr die Beteiligung an einer konterrevolutionären faschistischen Untergrundorganisation von Kirchenleuten vor, die nicht mehr und nicht weniger als den Umsturz der Sowjetmacht anstrebte. Und mich hatte Alexandra Karatajewa dementsprechend für den Fall eines Krieges mit Hitler vorbereitet, damit ich, wie die NKWD-Ermittler meinten, beim Angriff der deutschen Armee als Übersetzer arbeiten könnte. Solche schrecklichen Verbrechen hat man ihr vorgeworfen. Dennoch wurde sie nicht erschossen. Sie gehörte einer großen Gruppe an mit etwa vierzig Personen, gleichgesinnter Frauen, Geistlicher, Bischöfe und weiterer Bürger aus Murom. Dann gab es noch, wie es hieß, als Filiale dieser Organisation ein so genanntes „Untergrundkloster“, das in Wirklichkeit nicht existiert hatte. Meine Mutter bekam zehn Jahre. Einige ihrer Mitangeklagten wurden erschossen – 13 Personen. Sie erhielt mit einigen anderen zehn Jahre und wurde in die Lager bei Karaganda geschickt. In der Nähe von Karaganda gab es ein Lager „Dolinka“. Dort verbüßte sie ihre Strafe bei landwirtschaftlichen Arbeiten. Nach zehn Jahren … Bei der Verhaftetung war sie keine junge Frau mehr. Sie starb 1947 im Alter von 49, ohne das Lager verlassen zu haben. Obwohl ihre Haftzeit schon abgelaufen war, konnte sie das Lager nicht mehr verlassen, sie starb im Lagerkrankenhaus.
Da sie sich selbst geweigert hatte, an einer sowjetischen Schule zu unterrichten, ließ sie auch mich nicht in die Schule. Sie sagte, ich bin Lehrerin, ich bringe Dir alles Nötige genauso bei wie die Schule, und was ich fachlich nicht kann, das lernst du bei meinen Freundinnen. Ich erhielt bei ihr vor allem Unterricht in Literatur und russischer Sprache, und ihre Freundinnen unterrichteten mich in Chemie, Physik und Deutsch. Ich hatte für jeden Tag einen Stundenplan wie auch in der Schule, aber bis zu Mamas Verhaftung ging ich nicht zur Schule. Als sie verhaftet wurde, war ich schon fast 16.
Das Schuljahr begann, ich besuchte ein halbes Jahr die sechste Klasse, in der Schule der Arbeiterjugend, eine Abendschule für Arbeiterjugend. 1940 beendete ich die Zehnklassenschule, gerechnet ab 1937. In der 9. Klasse schloss ich extern ab, weil ich es sehr eilig hatte: Ich wollte höhere Bildung bekommen, nach Moskau gehen und die Moskauer Universität besuchen. Das war mein Traum.
Mit 13, 14 Jahren setzten bei mir ernsthafte Zweifel an den Dogmen der orthodoxen Lehre und der gesamten orthodoxen Literatur ein, die ich als Gottesdienstteilnehmer sozusagen gezwungen war zu bekennen und zu verkünden, wenn ich die Horen und die Apostelgeschichte vorlas. Ich bekam den Eindruck, dass das, was ich lese, insbesondere was ich anderen laut vorlese, zu meinen Ansichten im Widerspruch steht, das heißt, ich war kein aufrichtig gläubiger Mensch. Ich zweifelte vor allem an den Wundern.
Dann begriff ich, dass die Orthodoxie als Religion wirklich Opium für das Volk ist, dass alles, was die Kirche predigt, Trug ist, dass es auf der Welt keine Wunder gibt, dass alles, was in der Welt passiert, was es auf der Welt gibt, auf Grund von Naturgesetzen entstanden ist, auch der Mensch mit seinem Verstand. Das war Grundlage des Marxismus-Leninismus, und ich war damit völlig einverstanden, und ich bin es bis heute.
So hat sich, als meine Mutter verhaftet wurde, auch mein Leben grundlegend verändert – ich besuchte eine sowjetische Schule, ging einer sowjetischen Arbeit nach und verkehrte unter Menschen, die aktiv mit der Sowjetmacht zusammenarbeiteten.
Ich verkehrte mit einigen, ich würde sagen, fortschrittlichen Personen, und ich organisierte ziemlich schnell unter ihnen einen Literaturkreis. Vor allem zur Literatur. Naja, je nachdem, was jemand eben schreiben konnte, also einer verfasste Erzählungen, ein anderer literaturkritische Aufsätze. Wir wollten eine Literaturzeitschrift herausgeben mit der Bezeichnung „Literaturkreis-Teilnehmer“ (Litkruschkowez). In meiner Schulzeit gelang es uns, zwei Nummern herauszugeben. Wir schrieben sie auf Schreibmaschine. Damals, Ende der 30er Jahre, waren alle Schreibmaschinen registriert, deshalb schrieben wir erst alles mit der Hand, und dann erlaubte man uns auf Anweisung des Direktors, alles auf der Schreibmaschine der Schule abzuschreiben. Auch die Schul-Zeitung wurde auf dieser Schreibmaschine geschrieben. Ich arbeitete die ganze Zeit dort, mit Assistenten und dem Redaktionskollegium. Im „Litkruschkowez“ erschienen unsere Werke. Natürlich blieb alles im Rahmen der sowjetischen Zensur, es gab nicht die geringste Abweichung von den Dogmen des Marxismus-Leninismus und konnte es nicht geben, weil der Schuldirektor sorgsam darauf achtete. Er war ja für die Erziehung seiner Schüler verantwortlich. …. Dann organisierten wir einen Theater-Zirkel, führten Stücke auf, inszenierten Theaterstücke und zeigten sie in der Schule. Weiter gab es einen historischen Zirkel, wo wir zusätzlich zum Fach Geschichte historische Werke lasen und dazu Aufsätze verfassten. Das waren also drei Zirkel und dann noch ein vierter – ein ökonomischer. Aber als ich diesen Zirkel beim Direktor ansprach, reagierte er skeptisch: „Was ist das für ein ökonomischer Zirkel? Womit wollt ihr euch da befassen?“ – „Wir wollen Marx‘ ‚Kapital‘ studieren.“ „Das ‚Kapital‘ von Marx wird ja selbst an Hochschulen nicht studiert. Man studiert die Grundlagen der politischen Ökonomie, der Ökonomie, ja. Ich weiß nicht, was ihr davon verstehen wollt, im ‚Kapital‘?“ – „ Wir möchten gerne etwas davon verstehen. Wie verstanden es, denn die Jugendlichen vor der Revolution, als das ‚Kapital‘ für sie das Lehrbuch des Lebens und des revolutionären Kampfes gegen den Zaren war?“ – „Wer weiß, was da beim Zaren war! Nein, nein, nein.“ Mich hielt das nicht ab und meine Gesinnungsgenossen auch nicht, und wir trafen uns in der Wohnung eines Mädchens, das ich sehr mochte. Wir trafen uns privat, ohne die Schulleitung darüber zu informieren. Und wir begannen wirklich, das ‚Kapital‘ zu exzerpieren.
Etwa zur gleichen Zeit, 1939, stellte ich einen Aufnahmeantrag in den Komsomol, ich teilte innerlich alle marxistisch-leninistischen Auffassungen. Ich stellte den Antrag, las Satzung und Programm, und beim Gespräch in der Schule fragte man mich natürlich nach meinen Eltern. Ich antwortete, meine Mutter sei verhaftet worden, offenbar weil sie in die Kirche gegangen sei und auch mich dahin gebracht habe. Vom Vater wüsste ich nichts, weil wir schon seit meinem vierten Lebensjahr nicht mehr zusammenlebten. Man nahm mich in den Komsomol auf, ich bekam einen Ausweis. Als ich die zehnte Klasse abschloss, war ich also Komsomolze, worauf ich sehr stolz war, ich freute mich.
So ging es weiter, bis ich das Reifezeugnis bekam und es nach Moskau in die Mochowaja Straße mitnahm, wo sich damals die Moskauer Universität befand. Das war im August 1940. Ich musste einen Fragebogen ausfüllen. Das tat ich und gab ihm ab. Darin hatte ich die ganze Wahrheit über meine Eltern gesagt. Auf die Frage nach den „Eltern“ hatte ich angegeben, Vater und Mutter seien auf Grund von Artikel 58 verhaftet worden.
Man sagte mir: „Kommen Sie in zwei Tagen wieder.“ Ich hinterließ das Reifezeugnis. Ich hatte nur Einser, was mir das Recht gab, ohne Aufnahmeprüfung auf die Universität zu kommen. Als ich dann nachsah, war ich indes nicht in der Liste der Aufgenommenen. – Ich wurde dann Student des Moskauer Pädagogischen Instituts (MOPI). „Bist du in der MOPI – sitz und klage nicht“, wie man mir sagte. Naja, es war ein nicht allzu angesehenes Institut. Es bildete Lehrer für die Schulen im Gebiet Moskau aus. In Wirklichkeit schickte man sie dorthin, aber auch in den Fernen Osten, nach Sibirien und Mittelasien, wohin auch immer, aber möglichst weit weg. Ich besuchte die historische Fakultät. Das erste Studienjahr endete am 22. Juni 1941. Die letzte Prüfung war in Psychologie. Da erfuhr ich von Molotovs Erklärung, dass der Große Vaterländische Krieg begonnen hatte. Wir, eine Gruppe von Komsomolzen, wollten ins Komsomol-Komitee des Bezirks gehen und uns zur Front melden, um das Vaterland gegen die Faschisten zu verteidigen. Wir kamen ins Institut zurück, und ich begann mit den anderen Studenten, meine Sachen zu packen, um die Zimmer zu räumen. Da rief man mich plötzlich zum Direktor. Da saßen drei Personen, darunter ein Militär. Man zeigte mir einen Haftbefehl. Alles was ich bei mir hatte, gab ich ab – Pass, Studentenausweis, Komsomol-Ausweis und alles weitere. Man brachte mich in einem Auto zuerst ins Wohnheim, wo eine Durchsuchung vorgenommen wurde – da, wo ich mein Zimmer hatte. Wir wohnten in der Losinoostrowskaja-Straße. Von dort ging es in die Lubjanka. Das war am Tag, und abends fand schon das erste Verhör statt. Bis zum Verhör war ich in einer Einzelzelle. Sie hatten mich in eine Zelle gebracht, in der sonst niemand war. Das erste Verhör und die erste Frage: „Sie wissen, wofür Sie verhaftet wurden?“ – „Keine Ahnung.“ – „Ach, sieh da, keine Ahnung? Sie haben sich antisowjetisch betätigt. Sie haben in Murom eine konterrevolutionäre Jugendorganisation organisiert. Und was wissen Sie über ihre Eltern?“ – „Meine Eltern sind in Haft.“ – „Sie wissen, dass Ihr Vater ein Sozialrevolutionär war?“ – „Keine Ahnung, ich weiß überhaupt nichts von ihm.“ Das war das erste Verhör. Sieben Tage dauerten die Verhöre in der Lubjanka. Die Verhöre wurden so geführt, dass ich verstand, dass ich ein furchtbarer Verbrecher war, weil diese vier Zirkel, der literarische, dramatische –
I.O.: der historische und ökonomische –
Der historische und ökonomische besonders, sie alle waren eine verzweigte antisowjetische Untergrundgruppe, in der außer mir Dutzende junger Leute mitgearbeitet hatten. Somit war ich der Organisator einer antisowjetischen terroristischen und so weiter – faschistischen – Organisation in Murom im Gouvernement Nischni Nowgorod. Naja, es ist klar, was so jemanden am zweiten Kriegstag erwartet. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, die Erschießung. Stattdessen brachten sie mich nach einigen Tagen im „Schwarzen Raben“ mit einigen anderen Häftlingen aus der Lubjanka in die Taganka, und im Taganka-Gefängnis nicht mehr in eine Einzelzelle, sondern in eine Zelle mit 300 Personen. – Nach einer Woche kamen wir aus der Taganka in einen Transportzug nach Sibirien. Wir waren lange unterwegs. Es war Juli, schon Juli, Anfang Juli. Endlich brachten sie uns in Omsk ins Jekaterinen-Gefängnis. Das habe ich auch in meinem Roman „Schwarzes Dreieck“ beschrieben. Ich blieb da bis Mai 1942. Dort wurde die in Moskau in der Lubjanka begonnene Ermittlung fortgesetzt. Aber sie verlief schon abgeschwächt, obwohl alle bisherigen Beschuldigungen bestehen blieben, das heißt: Ich war der Leiter einer antisowjetischen jugendlichen Untergrundgruppe usw. Als man mir schließlich die Anklageschrift vorlegte, fragte ich den Untersuchungsrichter, was mir bevorstünde. Er sagte: „Das entscheidet das Gericht, aber ich glaube, für deine Verbrechen bekommst du nicht weniger als zehn Jahre.“ Im Mai 1942 wurde ich zum Schalter gerufen, da hing ein Bleistift an einer Schnur: „Unterschreibe“. Ich las: „Beschluss des Sonderausschusses vom Mai 1942: Student Soundso für antisowjetische Agitation nach Artikel 58-10 – fünf Jahre Besserungsarbeitslager.“ Fünf Jahre. Was für ein Glück! Nicht zehn, sondern fünf Jahre.
Dann kam das Durchgangslager Nowosibirsk, einige Tage im Durchgangsgefängnis von Nowosibirsk. Dann wieder ein Transport nach Krasnojarsk, dann einige Tage, mindestens eine Woche, Arbeit im Transitlager Krasnojarsk am Jenissei-Ufer. Wir beluden dort Lastkähne mit verschiedenen Anlagen, die nach Norilsk gingen. Und dann stellte man uns zusammen. Es gab eine Kommission. Jeder, der nach Norilsk kommen sollte, wurde allerdings recht oberflächlich von einem Arzt untersucht, und wenn es keine eindeutigen Gründe gab, jemanden für die Verschickung in den hohen Norden für untauglich zu erklären, dann wurde man verschickt. Sie stellten einen Transport zusammen. Uns verfrachtete man in den Frachtraum eines Schiffs mit dem Namen „Josef Stalin“. Wir fuhren komfortabel ins Norilsker Lager, nicht auf irgendeinem Lastkahn, sondern im Schiff „Josef Stalin“, im Schiffsinneren. Ein tiefgelegener Raum mit einer hohen hölzernen Treppe. Hierhin kamen wir zusammen mit Kriminellen, also alle durcheinander. Was sich hier in diesem Schiff abspielte, dafür gibt es kaum Worte. Wir waren etwa eine Woche bis Dudinka unterwegs, dann holte man uns endlich aus dem Schiff ans Tageslicht, ließ uns heraus. Wir kletterten ans Jenissei-Ufer in Dudinka. Das war im August.
Die ersten Jahre in Norilsk waren für mich sehr schwer. Ich war ausgezehrt durch den 13monatigen Gefängnisaufenthalt, wo wir täglich 400-Gramm Brot und zweimal Balanda bekamen, ich war völlig ausgehungert und kam in diesem Zustand hinter den Polarkreis mit seinem rauen Klima. Als wir im August ankamen, war noch gutes Wetter, erträglich war es noch Anfang September, aber nach Mitte September wurde es kalt, Schneeregen, Schneestürme, und wir trugen schon seit Urzeiten getragene Fetzen, also eine zusammengebundene Wattejacke mit löchriger Watte, die zur Hälfte verbraucht worden war, um Feuer zu machen, in zerrissenen Stiefeln, auch wattiert (mit Watte aus Wattedecken), und mit Sohlen aus Reifen von der Tscheljabinskier Traktorenfabrik. Das waren unsere Lebensbedingungen. Mit Hacke und Brecheisen mussten wir den Felsen hacken. Natürlich schwanden die Kräfte schnell, und um die Norm zu erfüllen, damit man, sagen wir, 600 Gramm Brot pro Tag bekam, reichten die Kräfte nicht aus. Es wurde immer schlechter, Kälte und Hunger und all das führten dazu, dass viele starben. Sie verloren völlig ihre Kräfte, lagen in der Sanitätsstation und verschieden dort, weil man sie nicht wie erforderlich behandelte. Ich habe, dank guter Menschen, überlebt. Ich wurde von diesen allgemeinen Arbeiten befreit, in denen ich natürlich umgekommen wäre. Da ich doch etwas Ausbildung besaß, immerhin war ich Student im ersten Studienjahr, wurde ich als Kontrolleur in dem Bau eingesetzt, dessen Baugrube ich mit ausgeschachtet hatte. Das war der Bau einer so genannten Oxiliquid-Fabrik, d. h. einer Fabrik, die Sprengstoff erzeugt. Oxiliquid heißt lateinisch flüssiger Sauerstoff. Mit diesem flüssigen Sauerstoff sättigte man den organischen Absorber und gewann Sprengstoff, den man in den Bergwerken von Norilsk zur Erzgewinnung an Stelle von TNT einsetzte, das dringend für Geschosse im Krieg gebraucht wurde. Diese Fabrik war für die Front, für den Sieg äußerst wichtig, und wir bauten sie in großer Eile. Zunächst war ich dort Kontrolleur, war erstens im Warmen und musste zweitens nicht mit Brecheisen und Hacke arbeiten, sondern mit einem Bleistift. Dann zeigte sich, dass ich noch nützlicher sein konnte, man versetzte mich ins Laboratorium, das damals schon bei der Fabrik existierte.
Statt fünf Jahren verbrachte ich 19 Jahre in Norilsk, die ersten vier Jahre hinter Stacheldraht, dann wurde ich entlassen.
Bis zur letzten Zeit, buchstäblich – heute, am 23. März, wurde ich entlassen – und noch am 22. März war ich nicht sicher, dass sie mich am nächsten Tag freilassen würden. Das war ich erst, als sie kamen und sagten: „Schtscheglow! Entlassung“.

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kostjanow (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Dr. Vera Ammer (MEMORIAL – Euskirchen)

© MEMORIAL International 2012

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