Drehbuch: Abdul-Wachit Dadajew erinnert sich

Abdul-Wachit Dadajew wurde 1936 im Dorf Samaschki, Tschetscheno-Inguschische ASSR geboren. Am 23. Februar 1944 wurden er und seine Familie nach Kasachstan deportiert. 1960 kehrte er mit Frau und Kindern zurück nach Samaschki. Während des ersten Tschetschenienkriegs 1995 wurden die Häuser von Abdul-Wachit als auch die von zweien seiner Söhne zerstört. Als Flüchtlinge lebten sie in Inguschetien, Nordossetien und nun bei Verwandten.

Transport

Wir hatten ein eingeschossiges Haus mit drei Zimmern. Mein Vater hieß Subair und meine Mutter Amanta, Abdul-Chalim ist der älteste Sohn, ich bin der zweite Sohn, Abdul-Wachit; der dritte Sohn ist Said-Chassan, und die Schwester heißt Kajpa.

Sie arbeiteten, bauten Kartoffeln, Mais und Weizen an. Wir hatten Pferde und Büffel, lebten bis zu unserer Ausweisung gut.

Es gab dieses Gerücht, dass die Tschetschenen nicht kämpfen wollten, und das wurde Josef Wissarionowitsch Stalin zugetragen. Daraufhin hat er die Kabardiner, Balkaren, Karatschaier, Tscherkessen, Tschetschenen und Inguschen, uns alle hat er dafür ausgewiesen, dass wir nicht dienten, nicht kämpften. Diese Gerüchte erfuhr ich von den Alten, nun, ich war ein kleiner Junge damals.

1944 wurden wir nach Kasachstan, Gebiet Taldy-Kurgan, Alakulsker Bezirk, in das Dorf Majskoje deportiert. Dort lebten wir 13 Jahre.

A. K.: Was an diesem Tag geschah?
A. D.: An diesem Tag wurden wir mit Maschinengewehren abgeholt. Zuerst wurden die Männer und Väter auf Viehwaggons verladen, danach Frauen und Kinder. 18 Tage und Nächte verbrachten wir im Viehwaggon auf der Fahrt nach Kasachstan. Ich erinnere mich, wie Menschen aus dem Fenster riefen. Auf einem Gleis war unser Transport und auf einem anderen Gleis ein anderer. Man rief sich durchs Fenster zu: „Woher?“, „Wir sind aus Atschchoj-Martan, Samaschki“, und im anderen Transport waren Leute aus Gudermes und Argun. Daran erinnere ich mich.

A. K.: Was gab man während des 18-tägigen Transports zu essen?
A. D.: 18 Tage und Nächte. Angeblich gab man uns Kamelfleisch und Suppe. 100 Gramm, aber das war kein Fleisch… auch Suppe mit Reis, Hafer, Hirse… und Brot, je 200 Gramm wurde ausgegeben.

Mutter durfte nichts mitnehmen. Wir waren zu sechst mit Kindern, der jüngste Bruder an der Hand, ich war älter und dann auch der älteste Bruder. Er war 14 und ich 8 Jahre alt. Und die Schwester Kajpa war auch noch klein. Mutter hatte keine Zeit, um irgendetwas mitzunehmen. Überall Leid… Sie wusste nicht, was sie mit den Kindern machen sollte, zurücklassen kam nicht in Frage.

Essen durfte sie auch nicht mitnehmen. Maschinengewehre, Schäferhunde, alle wurde hinausgejagt. „Schließt ab und gebt den Schlüssel ab“. Sogar der Schlüssel wurde weggenommen.

A. K.: Frauen, Kinder und Männer fuhren alle gemeinsam in einem Waggon?
A. D.: Ja, ja, ja.
A. K.: Und hielt der Transport tagsüber?
A. D.: Halte gab es tags und nachts. Aber die Scham war groß. Bei einem 15-jährigen Mädchen platzte die Harnblase und sie starb. Eine ältere Frau starb auch. Es gab einen Abortkübel, aber wer sich schämte, der starb. Eine Frau starb und ihr Säugling saugte noch nach ihrem Tod an ihrer Brust. Ich erinnere mich an alles im Waggon. Die Leichen wurden an den Bahnstationen hinausgeschafft. Wenn der Tote Söhne, eine Frau oder eine Tochter hatte, so wollten sie hinaus, weinten, wollten Vater oder Mutter beerdigen und durften nicht, weil die Türen verschlossen blieben. Der Ausstieg war verboten. Die Leichen wurden ins Wasser geworfen, im Schnee vergraben und Gott weiß wie noch. So war es, eine grausame Strafe.

Leben in Kasachstan

Später wurden wir auf Wohnungen verteilt, in denen Kasachen und nur selten Russen lebten. „Diese Familie nehme ich auf“, sagten die Kasachen, so wurden wir bei ihnen aufgenommen.

Zum Beispiel wurden wir von einem Hauswirt aufgenommen, in einem anderen Haus nahm ein anderer Hausherr auf. So wurden 120-150 Tschetschenen in einer Kolchose untergebracht. Es gab Ochsen für den Pflug; Weizen, Mais, Kartoffeln wurden angebaut.

Sie halfen uns, gaben mal eine Tasse, einen Becher, Streichhölzer, Brennholz. Sie sind schließlich Moslems wie wir… So halfen uns die Kasachen.

Sie sagten, wir hätten dasselbe Blut, denselben Glauben, einen Koran, nur die Sprachen wären verschiedenen. Sie hatten Mitleid und halfen uns.

Krieg, überall Hunger und Kälte. Nicht so ein Klima wie im Kaukasus. Es ist kalt in Kasachstan. Viele Tschetschenen, Inguschen sind vor Hunger und Kälte gestorben. Wir haben nichts Gutes in Kasachstan erlebt. Warum? Weil die Kasachen genauso hungrig waren. Überall war Krieg.

Da war Tachir, 2 Jahre älter als ich, er verhungerte. Die Menschen, auch die Kasachen, aßen Gras, Melden, andere Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne. Sie aßen Gras, die Bäuche quollen auf und sie starben. Vor allem Kinder und alte Menschen. Eine Hungersnot. Wir haben nichts Gutes in Kasachstan erlebt.

Wir durften die Bezirksgrenzen nicht verlassen. Jeden Monat musste man sich melden. Der Bezirkskommandant kam und unsere Väter und Mütter mussten sich melden. Die Bezirksgrenzen durfte man nicht verlassen, sie wurden bewacht.

Ich habe auf Kasachisch gelernt, eine russische Schule gab es nicht. Wir haben 9 Schuljahre auf Kasachisch absolviert. Ich habe als Chauffeur und Traktorist gearbeitet, habe dort geheiratet und meinen 20. Geburtstag gefeiert. Als ich 20 Jahre alt war, habe ich geheiratet. Heute habe ich 5 Söhne und 3 Töchter.

Nach welchen Regeln haben Sie in Kasachstan gelebt?*
B. B.: Nach den tschetschenischen.
A. K.: Den tschetschenischen.
A. B.: Erstens, achte das Alter. Wenn ältere Menschen etwas tragen, z.B. Eimer, dann muss der Jüngere ihm helfen, die Eimer abnehmen und sie zur Wohnung tragen. Dem Älteren ist der Vortritt zu gewähren. Wir haben viele solcher Bräuche: die Alten ehren, sich gegenseitig helfen. Wenn jemand ein Haus baut, kommen alle um zu helfen.

Rückkehr

Später erlaubte man uns, in die Heimat zurückzukehren. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ordnete an, alle Tschetschenen und Inguschen in ihre Heimat zurückzuführen und die Tschetscheno-Inguschische Autonome Republik wiederherzustellen. Und 1956/57 kehrten alle Tschetschenen und Inguschen aus Kasachstan in ihre Heimat zurück.

A. K.: Und was war mit Ihrem Haushalt, der in der Kolchose blieb, was wurde aus Ihrem Haus?
A. D.: Dort ist alles billiger, deshalb haben wir es umsonst dort gelassen. Wir lebten dort doch nur vorübergehend. Das waren nur so provisorische Erdhütten. Das kauft niemand, also soll es dort bleiben. Wer will, kann drin leben.

A. K.: Gibt es in Ihrer Familie einen Gegenstand, der von Ihrem früheren Leben vor der Deportation zeugt, etwas, das an Ihren Vater erinnert?
A. D.: Der Koran.
A. K.: Also, als man Sie deportierte, nahm ihr Vater den Koran mit?
A. D.: Ja.
A. K.: Und dieses Buch bewahren Sie zu Hause auf?
A. D.: Ja.
B. B.: Nichts weiter?
A. D.: Nein.

A. K.: Der 23. Februar, der immer der Feiertag der Sowjetischen Armee war, wie wurde er bei Ihnen begangen?
A. D.: Wie soll ich es sagen? Ein Tag der Trauer, ein schwarzer Tag. In jedem Haus gab es Tränen, Erinnerungen. Fragen Sie besser nicht. Ich kann und will mich nicht daran erinnern. Schrecklich, es war schrecklich.

A. K.: Wollten Sie immer zurück, dachten Sie nicht daran, in Kasachstan zu bleiben?
A. D.: Wir wären auch jetzt froh, wenn wir bis heute in Kasachstan geblieben wären.
A. K.: Warum?
A. D.: Man kann in Kasachstan gut leben. Aber in den zwei Kriegen 1995/96 bis 2002 sind viele Tschetschenen gestorben und die Häuser zerstört. Das Leben im Kaukasus ist schwer.

Kurz, ich habe nichts Gutes erlebt. Ärgernisse und Sorgen. Wieso dieser Krieg? Wer braucht diesen Krieg? Ich habe 5 Söhne und 3 Töchter. Tun sie mir etwa nicht leid? Natürlich tun sie mir leid.
Puschkin schrieb einmal: „Bei der Sonne ist’s warm, bei der Mutter ist’s dem Sohne wohl“. Auch meine Söhne schauen mit Bedauern auf ihre Eltern. Auch sie sind besorgt.

Jetzt nach dem Krieg möchten wir ein Haus bauen, mit der Familie dort leben, nicht mehr und nicht weniger, aber auf friedliche Weise, ohne Krieg. Wir wollen im Kreise der Familie leben.

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Irina Raschendörfer (MEMORIAL – Berlin)

© MEMORIAL International 2011

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