Drehbuch: Rosa Schowkrinskaja erinnert sich: „Möge die Erinnerung an Tausende solcher Schicksale wie meines wach bleiben“

Rosa Schowkrinskaja wurde 1930 geboren. Der Vater Jussup Schowkrinski kämpfte im Bürgerkrieg und war Leiter der Kultur- und Propagandaabteilung des Dagestaner Gebietsparteikomitees. 1937 wurde er verhaftet und starb im Lager von Workuta. Die Schwester Oktjabrina wurde im Alter von 17 Jahren verhaftet und zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt.
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Die Verhaftung des Vaters

Mama stammte aus einer großen Familie. Sie hatte fünf Brüder, die alle in Russland lebten und Ansehen genossen. Sie lehnten Papas Heiratsantrag ab. Papa entführte meine Mutter. Sie war damals erst 15 Jahre alt. Zuerst zog er nach Machatschkala um.
1936, als die Repressionen begannen, wurde Vater verhaftet. Mama erzählte, dass drei schwarz gekleidete Männer kamen. Ein schwarzes Auto stand am Hausaufgang des Regierungsgebäudes, wo wir wohnten. Und Papa bat sie: „Ich komme selbst, damit die Kinder sich nicht beunruhigen und weinen. Gehen Sie, ich komme selbst“. Sie gingen hinaus und Papa ging allein los. Mama sagte uns, Papa wäre auf Dienstreise. Aber danach sahen wir Papa nicht mehr wieder. Und Vater saß drei Jahre im Gefängnis von Machatschkala. Drei Jahre wurde er gefoltert, kam ein Untersuchungsführer nach dem anderen. Das alles schrieb er auf und ließ es von den Aufpassern übergeben. Und er schickte mehrere Eingaben an Stalin nach Moskau.
Die Aufseher überbrachten Vaters Aufzeichnungen, in denen er die Folter und Misshandlungen beschrieb. Einer dieser Aufseher war wohl persönlich dabei und beschrieb, wie während eines Verhörs Vater es nicht mehr aushielt und angeblich diesen Aufseher mit einem Stuhl schlug. Danach kam er in eine Einzelzelle.
Drei Jahre war Papa im Gefängnis, im Karzer oder in Einzelhaft. Nach drei Jahren begann das Gerichtsverfahren.
Und wegen dieser ganzen Aussagen wurde dort ein anderer Untersuchungsführer eingesetzt. Eine Troika tagte und verurteilte ihn zu 8 Jahren.

Alle rieten, den Familiennamen abzulegen

Vater sagte: „Wenn du den Familiennamen ablegst, ist das für die Kinder ein schwerer Schlag. Die Kinder werden denken, dass ich wirklich ein Verräter, ein Volksfeind bin. Schärfe den Kindern ein, dass ich ein aufrechter Kommunist bin und niemals Verrat beging.“ Seit seinem 18. Lebensjahr war er Parteimitglied. Und wie oft wurde Mama einbestellt. Und alle rieten ihr: „Leg den Nachnamen ab und die Kinder kommen in der Schule unter.“ Mama war schön, stattlich, üppig. Nie werde ich vergessen, wie mir meine Cousine erzählte, wie ein Untersuchungsführer Mama mehrere Stunden lang festhielt. Und der jüngste Bruder Hussein war erst 6 Monate alt.
Er hielt sie also mehrere Stunden fest und Mama sagte ihm, dass sie ihr Kind stillen müsste und dass die Milch einschoss. Er behielt sie trotzdem da. Dann – so erzählte es die Cousine – holte Mama die Brust raus und spritzte ihm die Milch direkt ins Gesicht. Daraufhin entließ er sie.
Mama blieb eine Woche im Bett und rang um Fassung. Aber den Nachnamen legte sie nicht ab. Wir haben bis zum Schluss unseren Familiennamen „Schowkrinskaja“ behalten.

Wiedersehen im Gefängnis

Nachdem Papa einem Gefangenentransport zugewiesen wurde, erlaubte man ein Treffen. Mama hatte darum gekämpft. Papas Schwester nahm einen Schluck Cognac und gab Mama auch etwas. Sie tranken sich Mut an und gingen zum Treffen. Als sie ankamen am Gefängnis in der Puschkinstraße in Machatschkala, wurden sie abgeführt. Sie erzählte, dass überall Gitter waren, Türen, Schlösser, und plötzlich hielten sie an. Die Tante hatte Mama eingeschärft: „Keine Tränen! Wehe, mein Bruder sieht dich weinen!“ Karr-karr-karr klang das Eisen. Vater wurde hereingeführt. Vater trat ein und sobald er Mama und seine Schwester sah, liefen ihm die Tränen. Die Schwester sprach: „Du! Du! Bist du etwa kein Mann, dass du Tränen zeigst? Du, du! Ich halte dich für keinen Mann, nicht für meinen Bruder! Du sollst nicht weinen!“ Daraufhin hob er seine gefesselten Arme, bewegte die Füße und sprach: „Ich weine nicht, weil man mich verurteilt hat und mich nun deportiert. Ich wurde nicht von einem sowjetischen Gericht verurteilt, sondern von einem urzeitlichen Feudalgericht.“ So zeigte er es mit seinen Händen.

Flucht aus Machatschkala

Am selben Abend packte Mama die Sachen und wir brachen noch in der Nacht auf. In den Aul, 180 Kilometer. Es regnete. Damals waren die Straßen noch nicht so wie heute. Überall lag Dreck. Die Straßen waren so gefährlich – auf einer Seite der Abgrund, auf der anderen Seite Felsen. Beschwerlich waren diese Wege. Der Fahrer war Russe und hieß wahrscheinlich Kolja. Nie werde ich vergessen, wie Mama ihn Wakolinka nannte.
Wir kamen in der Siedlung an. Bei unseren früheren Ankünften wurden wir von allen begrüßt. Nicht eine Seele. Niemand kam, um uns zu begrüßen. Der Fahrer half uns, wir betraten das Haus und blieben dort. Das war unsere Ankunft im Aul, die wir diesem guten Menschen verdankten. Wir blieben im Aul.

Wie man uns im Aul empfing

Doch nach unserer Ankunft im Aul, als wir am ersten Tag hinausgingen – ich weiß nicht, wer es den Kindern beigebracht hatte – die Kinder konnten kein Russisch – versperrten uns die Kinder den Weg. „Tra-azkisten! Tra-azkisten!“ Woher sie wohl dieses Wort kannten? Wir brachen in Tränen aus, kehrten nach Hause zurück und sagten: „Mama, wir werden nicht mehr rausgehen, wir werden nicht mehr in diese Schule gehen.“
Wir blieben im Aul. Mama durfte nicht in der Kolchose arbeiten, und wir durften nicht in die Schule gehen. Im Geschäft durften wir nicht einkaufen. Mama wurde als Einzelbauer eingestuft. Damals wurden die Kolchosbauern mit hohen Steuern belegt, aber ein Einzelbauer trug die doppelte Steuerlast.
Alle dachten, dass Mama als Frau eines Ministers körperliche Arbeit nicht gewohnt war. Aber Mama arbeitete besser als alle anderen und sie erhielt einen eigenen Abschnitt. Sie nahm uns Kinder mit zum Mähen, zur Getreideernte und zum Graben. Wir erfüllten die Norm doppelt – doppelt – erst danach wurden wir in die Kolchose aufgenommen. Mama wurde in die Kolchose aufgenommen, Mama wurde Gruppenleiterin in der Kolchose, bekam Arbeitseinheiten.

Tod des Vaters im Lager

Aus dem Norden, aus dem PetschoraLag erhielten wir nur einen einzigen Brief. Vater schrieb diesen Brief, beschrieb die Natur, überall Schnee, nur Eisbären und weiße Rebhühner. Eiseskälte, minus 50 Grad, trotzdem bauen sie eine für unser sowjetisches Vaterland wichtige Eisenbahnlinie. Was das für eine Eisenbahnlinie war, weiß ich natürlich nicht. Nach diesem Brief erhielten wir nichts mehr vom Vater. Und am Ende des Briefes schrieb er immer: „Und wo ist unser mächtiger Stalin? Wo ist unser mächtiger Stalin?“ Nach diesem Brief erhielten wir nichts mehr, aber nach einem Jahr – 1941 – erhielten wir die Nachricht, dass Vater irgendwo in einem Krankenhaus gestorben war. Keine genauen Angaben zu Ort und Umständen. Zur Beerdigung und zur Totenmesse wurde niemand zugelassen. Ringsum stellte der Dorfsowjet Wachen auf, damit niemand zu uns gelangte. Mama und wir Kinder beweinten Papa allein.
Die Angst ging um. Als Vater verhaftet wurde, trat niemand für uns ein, niemand legte ein gutes Wort für uns ein. Nicht, als meine Schwester verhaftet wurde, nicht, als Vater verhaftet wurde. Es war eine schreckliche Zeit, eine schreckliche Zeit.

Wie der Großvater starb

Wie Großvater starb? Großvater nahm Magomed an die Hand – mein Bruder war 5 Jahre alt – und ging mit ihm zum Versammlungsplatz. Dort versammeln sich die Ältesten um zu reden. Einige hatten Mitleid, aber alle hatten Angst etwas zu sagen. Und dieser Tänzer, den Papa seinerzeit nach Moskau geschickt hatte, um vor Stalin aufzutreten, stand auf und sagte: „Unsere Siedlung ist eine Siedlung von Revolutionären. Schowkrinski hat Schande über sie gebracht. Dieser Geist muss vernichtet werden, diese ganze Sippe muss vernichtet werden.“ Großvater sagte kein Wort, nahm Magomed an die Hand und ging nach Hause.
Nun, ich, nun, ich, nun. Achmadi sagte nun, so, nun, so. Ich habe mich hingelegt, nun weiß ich, dass ich nicht mehr aufstehen werde. Die Dorfbewohner müssen nicht auf meiner Beerdigung dabei sein. Beerdigt mich neben meinem Großvater und Urgroßvater. Ich brauche keine großartige Beerdigung, aber nach diesen Worten werde ich nicht mehr aufstehen.“ So starb Großvater.

Verhaftung der Schwester Oktjabrina

Damals arbeitete Oktjabrina an dieser Schule. Sie sah städtisch, stattlich, schön aus, war belesen, organisierte verschiedene Arbeitsgemeinschaften und alle Auftritte. Einige Lehrer – einer ganz besonders – begann sie zu belästigen.
Und da ergriff sie vom Tisch eine Leninbüste aus Gips und warf sie nach dem Lehrer, er wich aus, die Büste flog durchs Fenster, das Glas zerbrach und die Leninbüste ging zu Bruch.
Aus Kumuch erging ein Anruf, NKWDler kamen, nahmen die Schwester mit und verhafteten sie aus diesem Grund.
Eine Troika kam, zwei Männer und eine junge russische Frau.
Die Troika verurteilte sie zum Tod durch Erschießen. Ja. Als das Gericht tagte, erzählte die Schwester später: „Diese junge Russin, versteckte sich hinter einem Heft. Und ich hörte, wie ihr die Tränen liefen.“ Sie stimmte gegen das Urteil. Sie stimmten ab und sie stimmte gegen die Erschießung, weil die Schwester minderjährig war.
Sie wurde zu 15 Jahren verurteilt. 15 Jahre, sie wurde deportiert. Zuerst war sie in Kaspijsk, danach in Buinaksk und danach wurde sie nach Sibirien deportiert. Dort blieb sie 7 Jahre. Der Familienname Schowkrinskaja rettete sie. Sie war schön, stattlich und dort schlug ihr jemand, der Papa kannte, vor: „Du wirst hier nicht entlassen, wenn du kein Kind bekommst.“ Sie gebar dort ein Mädchen, Swetka. Und wurde als Mutter freigelassen und kam als solche zurück.

Wie Mama Stalin beweinte

Soll ich erzählen, wie Mama Stalin beweinte?
A. K.: Ja, natürlich.
R. Sch.: In der Schule fand die Totenmesse statt – Stalin war tot. Niemand weint, niemand. Und Mama war bekannt. Sie sang und war Klageweib. Der Vorsitzende des Dorfsowjets schickte nach ihr: „Geht und holt Kystaman. Stalin muss beweint werden.“
Und Mama begann ihn zu beweinen: „Stalin! Möge dein Haus brennen, Stalin! Du hast dein Haus angezündet und meines auch! Ach, armer Stalin! Du hattest nur ein Paar Stiefel! (Ich weiß nicht, woher sie das hatte.) Ach, mein armer, kluger, gelehrter Stalin. Von allen wurde er belogen, alle haben dich gegen dein dich liebendes, dich verehrendes Volk aufgebracht.“ Der ganze Saal schluchzte, der ganze Saal. So beweinte Mama Stalin.
Weder meine Schwestern, noch Mama, hielten Stalin jemals für den Schuldigen. Obwohl Mama nicht gebildet war, hatte sie Intuition. Sie sagte: „Stalin konnte und kann nicht alles wissen, Stalin ist unschuldig.“

Heirat

Aus Aserbaidschan kamen sie, um mich zu abzuholen.
Sie kamen und Mama stimmte aus Angst, weil man die Schwester in der Schule verhaftet hatte, zu und weil sie sich um mich fürchtete – so ein Bezirk, so eine Siedlung. Sie kamen überein und Mama und ich fuhren wieder über die Berge nach Aserbaidschan, dort heiratete ich. Solange Vater nicht rehabilitiert war, kehrte ich nicht zurück. Ich hatte dann schon vier Kinder.

Nach der Rehabilitierung

Später, nach Vaters Rehabilitierung, kauften wir eine kleine Wohnung und lebten bis vor kurzem in Machatschkala. Bis ein Bruder starb, dann der zweite, die Schwester starb und ich blieb übrig. Nun bin ich die einzige aus der Familie der Schowkrinskis. Und ich bin „Memorial“ natürlich sehr dankbar, dass mir diese Aufmerksamkeit zuteil wird. Damit das Schicksal, das, so wie mir, Tausenden widerfahren ist, nicht vergessen wird. Damit man sich an alles erinnert. Das ist unsere Geschichte, die Geschichte der Familie Schowkrinski.

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Irina Raschendörfer (MEMORIAL – Berlin)

© MEMORIAL International 2012

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