Drehbuch: Susanna Petschuro erinnert sich: „Wir wollten frei sprechen“

Susanna Petschuro wurde 1933 in Moskau geboren. In den Oberklassen wurde sie Mitglied der Jugend-Untergrundgruppe „Kampfbund für die Sache der Revolution“.

Im Januar 1951 wurden alle Mitglieder der Organisation verhaftet. Drei Personen – Boris Sluzki, Wladilen Furman und Jewgeni Gurewitsch – wurden zur Erschießung verurteilt, die übrigen zu unterschiedlichen Haftstrafen in Gefängnissen und Lagern. Die 17jährige Susanna wurde zu 25 Jahren Besserungs-Arbeitslager verurteilt, die sie, nachdem sie mehrere Gefängnisse passiert hatte, in Inta, Abes und Potma verbüßte.

1956 wurde ihr Verfahren revidiert und die Haftstrafe auf fünf Jahre herabgesetzt. Noch im selben Jahr wurde Susanna Petschuro entlassen.

Sie absolvierte ein Studium am Moskauer Institut für Geschichte und Archivwissenschaften, arbeitete dann im Archiv für antike Akten im Afrika-Institut.
Sie ist langjähriges Mitglied von „Memorial“. Lebt in Moskau.

Ich bin Susanna Petschuro. Das ist mein Mädchenname, und ich habe ihn nie geändert.
Mein ganzes Leben war eine Schule. Man muss sagen, dass ich ziemlich voller Ideen war. Wir haben uns gegenseitig respektiert. Gegenseitig und unsere Lehrer. Und deshalb haben wir auch wirklich mit voller Hingabe gelernt. Es hat uns ja auch interessiert. Es gab keinen Fernseher, nichts dergleichen gab es. Bücher gab es auch lange Zeit nicht, überhaupt war es schwer, an Bücher zu kommen. Dann wurde im Haus gegenüber dem Wachtangow-Theater eine Kinderbibliothek eröffnet. Da standen sie bis unten Schlange. Alle Kinder des Bezirks gingen dahin. Wenn jemand von uns ein gutes Buch bekam, haben wir uns füreinander angestellt und uns dann untereinander das Buch geliehen. Bis die Bibliothekare merkten, dass es die ganze Zeit nur in einer einzigen Schule kursiert.

Wir haben unsere Schule als „demokratisch“ bezeichnet. Weil man da aufgenommen wurde. Damals wurden Schuluniformen eingeführt, und sehr viele Familien konnten ihren Kindern keine Schuluniform kaufen, ja sie überhaupt nicht in die Schule bringen. Und dann haben wir das selbst in die Hand genommen. Wir hatten einen Schulsowjet. Und außerdem gab es ein „Haus der Pioniere“.

Wir hatten einen Literaturkreis, der war sehr gut. Der Unterricht in der Schule war schlecht, aber wir haben uns gegenseitig unterrichtet. Die Hauptsache war aber, dass wir zusammen waren, wir waren alle sehr gut befreundet und hingen sehr aneinander. Allerdings gehörte die Leiterin dieses Kreises zu denen, die uns dann denunzierten.

Wir sagten uns, dass es uns reicht, und begannen, selbst etwas zu unternehmen. Das war der Anfang unserer Organisation.

Wir wollten frei über das sprechen, was uns bewegte, was im Land vor sich ging. Wir wussten ja trotz allem über den Kosmopolitismus und über die neue Repressionswelle Bescheid. Wir lebten ja unter Menschen. Zu Boris gingen wir nicht nur, weil er allein lebte, sondern auch, weil er ein weit über sein Alter hinaus gebildeter Mensch war. Er hatte sehr viel gelesen und kannte sich zum Beispiel sehr gut im Marxismus aus. Er schaffte es einfach, alles zu lesen.

Und so ergab es sich, dass wir mehr als über alle möglichen Studien über das Leben sprachen. Wir sprachen darüber, dass alles irgendwie – nun ja, wir hatten alle Lenin gelesen, „Staat und Revolution“ war für uns ein Standardwerk. Aber das, was geschah, stimmte in keiner Weise mit den Leninschen Prinzipien, den Prinzipien von „Staat und Revolution“ überein. Alles war verfälscht, nicht so, wie es hätte sein sollen. Dann lasen wir den „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ und so weiter. Dies alles. Und dann sagte Boris zum ersten Mal, dass das alles Bonapartismus ist. Wir sprachen etwa über die Zustände auf dem Dorf, die Verfolgungswellen der früheren Jahre, über unsere Nationalitätenpolitik, die Deportationen usw., die Kollektivierung. Über die Kollektivierung wussten wir wenig. Das habe ich dann erst in den Lagern erfahren.

Die anderen waren schlafen gegangen, meine ganze Familie. Und ich setzte mich wie immer in die Ecke, wir hatten dort einen Tisch, und in der Ecke stand eine Kommode mit meinen Lehrbüchern, Schreibheften und anderem. Ich saß immer an dieser Kommode, diese Ecke war mein Arbeitsplatz. Ich fing an, einen Artikel von Lenin über die Vereinigten Staaten Europas zu lesen und daraus zu exzerpieren.

Plötzlich klingelte es an der Tür, man hörte Klopfen und laute Stimmen. Sie gingen die einzelnen Zimmer entlang, und jede Familie dachte, sie wollten zu ihnen. Zu uns kamen sie zuletzt. Sie sagten allen, sie sollten in ihren Wohnungen bleiben, und kamen zu uns. Ihr Chef, das war Blinow, kam zu mir. Nikitin – Skorochodow, Blinow und Nikitin, drei Männer waren es. Er legte mir den Befehl vor: „Unterschreiben Sie.“ Es war ein Haussuchungs- und Haftbefehl. Er verdeckte mich mit seinem Körper, weil ich ja in so einer Ecke saß. Ich unterschrieb und sagte: „Sagen sie meinen Eltern, dass es nur eine Haussuchung ist. Sagen sie nichts von Verhaftung. Ich werde sie vorbereiten.“ Er trat zurück und fragte: „Wie, du weißt das?“ „Ja.“ Er sagte ihnen nichts von Verhaftung, er sprach nur von Durchsuchung. Die Durchsuchung begann. Sie weckten alle auf, sogar meinen vierjährigen Bruder. Mein Bruder weinte auf den Armen meiner Mutter, zeigte mit der Hand auf sie und schrie: „Diese Onkels sollen gehen.“ Mama versuchte, ihm den Mund zuzuhalten, und weinte…Die Haussuchung dauerte bis etwa vier Uhr nachts. Sie nahmen wer weiß was alles mit. Belletristik, die ihnen aus irgendeinem Grund verdächtig schien. Am meisten interessierte sie natürlich das Buch von Reed: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. „Ah!“ Und einer von ihnen sagte einem anderen: „Schau mal, ein Engländer, und er hat über Trotzki geschrieben.“ Ich sagte. „Ein Amerikaner“. „Ja, und er hat über Trotzki geschrieben, und sie hat das hier gelesen.“ Ich: „Und sehen Sie mal, wer das Vorwort verfasst hat.“ Er sah nach und sagte: „Hm, die Krupskaja. Was soll das? Naja, egal, pack es ein.“ Es kam in den Sack.

Ein Exemplar unseres Programms haben sie mitgenommen, aber ich hatte zwei. Bei einem kann ich ja noch sonst was erzählen, aber wenn es zwei sind? Jedenfalls lag das zweite bei den Büchern, in der Kommode. Und sie fingen an, alles aus der Kommode herauszuwerfen, Schulbücher und Hefte, und ich beschwerte mich: „Was machen Sie da? Ich muss morgen in die Schule! Ich habe eine Klassenarbeit! Was machen Sie mit den Schulbüchern, Sie machen die Einbände kaputt…“ und so weiter. Ich nahm das, was sie überprüft hatten, und legte es akkurat hin, also alles auf einen Haufen. Sie sahen weiter alles durch, sie hatten es allmählich satt. Während sie damit beschäftigt waren, zog ich das Programm unter einem Packen hervor und legte es unter den Haufen, den sie bereits durchgesehen hatten. So haben sie es nicht gefunden. Und da dachte ich, dass es doch nicht so schlecht aussähe. Wenn sie so leicht hinters Licht zu führen, wenn sie solche Flaschen waren… Nikitin war ein fülliger, älterer Mann. Er bückte sich, holte Wäsche aus dem unteren Wäschefach und sagte meinem Vater: „Wir haben wirklich eine Hundearbeit. Müssen hier herumkriechen und können nachts nicht schlafen“. Und mein Vater: „Ja, natürlich, Sie haben eine schwere Arbeit.“

Alles was ihnen unter die Finger kam, schnappten sie sich, es kam mit. Alle Fotografien, Fotografien mit Kindern drauf, alles nahmen sie mit. Und dann hieß es: „So, du kommst mit“. Mama schrie auf: „Wohin? Was soll das heißen?“, und mein Vater: „Nun schrei nicht, sie werden das klären. Das ist nun mal unsere Staatsmacht.“ Ich: „Ja, ja, die klären das auf. Ich komme wieder, ihr werdet sehen, regt euch nicht auf.“ Und sie: „Zieh dich an“, ich war ja noch im Morgenrock. Ich ging hinter einen Vorhang, zog ein Kleid an und nahm das Komsomol-Abzeichen ab. In diesem Augenblick begriff ich plötzlich, dass ich nie mehr hierher zurückkommen würde. Und ich wollte etwas zum Andenken mitnehmen. Auf dem Nachttisch lag so eine kleine Puppe. Man hatte mich immer ausgelacht, dass ich in der 10. Klasse noch mit Puppen spielte. Ich mochte Puppen wirklich gerne. Also nahm ich mir diese kleine Puppe. Sie bekamen das mit und schrien mich an: „Was soll das, denkst du, du bist hier im Kindergarten? Leg sie sofort weg!“ Ich glaube, ihnen ist richtig schlecht geworden. Sie verhaften jemanden, und der nimmt sich eine Puppe mit. Sie sagten meiner Mutter: „Geben Sie ihr einen Mantel. Haben Sie alte Stiefel? Geben Sie ihr die auch. Und was Leichtes zu essen.“ Ich: „Wozu, weshalb denn?“ „Nun mach schon. Haben Sie ein Tuch?“ Mama gab mir ein altes Tuch von der Oma. „So, wickel dich ein, zieh Mantel und Stiefel an. Gehen wir.“ Und im Korridor, als Mama zu mir stürzte, sagte ich ihr: „Nicht weinen, das geht alles vorbei“, und setzte leise hinzu: „Mama, wenn sie fragen wo ich bin, sage ihnen alles. Und räum auf.“ Mama trat einen Schritt zurück, sie hatte begriffen, was ich gesagt hatte: „Räum auf“. „Genug geredet.“ Und wir gingen hinunter zum Auto.

Nach zwei Wochen verlegten sie mich ins Gefängnis Lefortowo. Da begann das richtige Gefängnisleben. Es war schrecklich, mit endlosen Nachtverhören, wochenlang ohne Schlaf. Man verliert jedes Bewusstsein, überhaupt jede Orientierung – alles ist schon vorbei, nichts bleibt mehr. Wenn sie einen durch die Korridore führten, gegen die Schnalle klopften und einen zur Wand drehten, eine Minute – in dieser Minute schlief man. Beim Verhör, wenn der Vernehmer meine Antwort auf eine Frage aufschrieb, schlief ich. Er brüllte mich an: „Du hast eiserne Nerven“. „Nun ja“. Einzelhaft, immerzu Einzelhaft… Das war die Ermittlung. Danach kam ich in die Lubjanka, dann wieder zurück…

Und dann kam die Gerichtsverhandlung. Die Anklageschrift war völlig extrem. Was da nicht alles drin stand. Die Verhandlung dauerte sieben Tage. Da saßen drei alte Leute. Jeder von uns hatte seine eigene Bewachung. Natürlich gab es weder Ankläger noch Verteidiger noch Zeugen. Die Verhandlung fand im Keller jenes Lefortowo- Gefängnisses statt. Und die Urteilsverkündung.

Nach Verkündigung der Höchststrafen fingen alle an zu schreien und zu weinen, besonders die Mädchen. Von hinten rief jemand: „Schreibt ein Gnadengesuch, schreibt, bittet um Begnadigung!“ Schenja drehte sich um und sagte: „Wir werden nichts schreiben, wir werden nicht um Begnadigung bitten.“ Ich weiß, dass sie kein Begnadigungsgesuch geschrieben haben. Sie haben das abgelehnt. Und die anderen … drei von uns bekamen zehn Jahre. Meine minderjährige Schwester, die in nichts involviert gewesen war, und noch zwei, Tamara Rabinowitsch, die nirgends teilgenommen hatte, und Galja Smirnowa, die praktisch auch nichts wusste. Es gab da eine bemerkenswerte Formulierung: „Auf Grund fehlenden Straftatbestands – zehn Jahre“.

Ich kam nach Inta, ins Transitlager von Inta. – Das erste Lager ist wie die erste Liebe, man vergisst es nie. So oft ich danach auch hin und her transportiert wurde, das Inta-Lager, dieses 5. Sonderlager steht für alles – für alles Schlimme und, was die Hauptsache ist, für alles Gute. Für die Menschen, ohne die ich es nicht geschafft hätte. Die ich bis heute noch genauso liebe, und ich verstehe, dass alles ganz anders gekommen wäre, wenn ich ihnen nicht begegnet wäre.

Das erste Mal, als sie mich direkt aus dem Lager gerufen haben, an dem Tag hatte ich mir das Bein mit einer Hacke verletzt. Deshalb bin ich noch in diesem Zustand gefahren. Es war sehr schwere Arbeit, Erdarbeiten. Wir mussten eben mit dieser Spitzhacke den vereisten Boden zerschlagen, alles auf eine Trage werfen und 300 Meter weit transportieren, es dort abladen und klein hacken. Wenn das Zerschlagene wieder fest gefroren war, mussten wir es wieder zurückschleppen. Wie unser Kommandant sagte: „Es geht nicht um eure Arbeit, es geht darum, dass ihr euch quält.“

Mit dieser Arbeit verbinde ich zwei mir sehr wichtige Erinnerungen. Die erste, wie ich diese Trage mit einer Litauerin schleppte, die sich den Arm gebrochen hatte. Mir ging es an diesem Tag ganz schlecht. Wir kamen zurück, beim Beladen wechselten wir uns immer ab, damit, während die eine belud, die andere sich wenigstens für diese Zeit ausruhen konnte. Ich sah, wie sie die Trage auf ihrer Seite belud. Mein erster Gedanke war ein ganz mieser: „Wie schön, da habe ich es leichter“. Und danach: „Um Gottes willen, wie kann ich das zulassen?“, und ich sagte ihr: „Was machst du da? Dir tut doch der Arm weh. Belade die Trage in der Mitte.“ Sie sagte mir: „Dir geht es doch heute ganz schlecht. Wenn es mir morgen schlecht geht, wirst du es genauso machen.“

Und die andere. Ich habe mit einer kleinen, schmächtigen Französin zusammengearbeitet, Luisa Lendel. Sie war zu 25 Jahren für Vaterlandsverrat verurteilt worden. Wieso? Sie war mit ihrem Mann und einem einjährigen Kind nach Russland gekommen. Der Mann war Ingenieur und hatte hier einen Arbeitsvertrag. Nach einem Jahr starb er. Und sie wollte natürlich nach Frankreich zurückkehren, schließlich war sie französische Staatsbürgerin. Sie stellte für sich und das Kind einen Antrag. Man sperrte sie ein, nahm ihr das Kind weg und verurteilte sie wegen „Vaterlandsverrat“. Sie konnte nie begreifen, welches Vaterland sie verraten haben sollte. Ihr Kind hat sie nie mehr gefunden. Während wir gemeinsam die Trage schleppten, sang sie immer vor sich hin. Ich verstand ja kein Französisch und bat darum, es mir zu übersetzen. Das Lied lautete so: „Wenn du nie in Paris gewesen bist, setz dich ins Flugzeug, in ein Schiff oder einen Zug. Und du wirst sehen, dass es auf der Welt keinen schöneren Ort gibt als Paris.“ Sie starb in meinem Beisein, diese Luisa. Ohne ihr Kind gefunden zu haben.

Als man uns eingesperrt hatte, wurde unsere ganze Schule ständig vorgeladen. Schüler wie Lehrer. Ich habe diese ganzen Unterlagen studiert. Es ist nicht ein einziges Wort gegen uns gesagt worden. Die Menschen hatten doch verstanden, wer wir sind und worum es ging. Keiner hat ein schlechtes Wort gesagt. Und unsere Klassenlehrerin, Nadeshda – Jekaterina Neustrojewa, die Schwester jenes Neustrojew, der die Flagge über dem Reichstag gehisst hat. Sie hatte den ganzen Krieg durchgemacht. Sie war eine sehr parteitreue Frau. Sie hat mir eine solche Beurteilung gegeben, dass man sie direkt als Empfehlung für eine Auszeichnung als Held der Sowjetunion hätte verwenden können. Niemand von ihnen hatte Angst. Man fragte sie nach ihren Schülern aus, und sie haben die Schüler nicht verraten. Weder die Lehrer noch die Klassenkameraden. So eine Schule war das.

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrei Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Vera Ammer (MEMORIAL – Euskirchen)

© MEMORIAL International 2012

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