Zeugen des Stalinismus

Sonnabend,11.04.2009

Gäste: Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja
Moderatorin: Natella Boltjanskaja
Sendung: Im Namen Stalins

N. BOLTJANSKAJA: Guten Tag und guten Abend. Sie hören „Echo Moskaus“ und sehen den Fernsehkanal RTVi. Ich bin Natella Boltjanskaja und führe Sie durch die Sendung „Im Namen Stalins“, die gemeinsam mit dem Verlag „Politische Enzyklopädie Russlands“ und mit Unterstützung der Stiftung des ersten russischen Präsidenten, Boris Nikolajewitsch Jelzins, realisiert wird. Unsere heutigen Gäste sind Aljona Koslowa, Archivleiterin, und Irina Ostrowskaja, Archivmitarbeiterin der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL. Ich heiße Sie willkommen.

Lassen Sie uns über die Zeugen des Stalinismus sprechen.

Meine heutigen Gäste hatten nämlich die Idee zu einem, wie ich sagen würde, Projekt, welches sie im Rahmen des wissenschaftlich-historischen Informationszentrums MEMORIAL durchführen. Das Projekt nennt sich „Der letzte Zeuge“. Worum handelt es sich dabei?

A. KOSLOWA: Das Projekt wird vorrangig im Rahmen des historischen Zentrums MEMORIAL durchgeführt. Wir führen hierfür Videointerviews durch mit ehemaligen Opfern politischer Verfolgung, Zeitzeugen und Überlebenden jener vielfältigen Repressionen. Dabei handelt es sich jedoch um eine Ergänzung unserer Arbeit, die wir schon vor langer Zeit begonnen haben und der wir uns seit 20 Jahren widmen. Nur, dass wir jetzt zusätzlich die Möglichkeit haben, Interviews auf Video aufzuzeichnen. Dies ist keine leichte Aufgabe, doch sie gibt uns und den zukünftigen Generationen die Möglichkeit, in die Gesichter jener Menschen zu schauen, die unser schweres 20. Jahrhundert überlebt haben, ihnen in die Augen zu sehen.

Und selbst beim Namen unseres Projekts – „Der letzte Zeuge“ – geht es uns in erster Linie um die Idee, Zeugnis über das 20. Jahrhundert abzulegen. Denn wenn wir über Repressionen in unserem Land sprechen, so können wir nicht deren Beginn und Ende festlegen. Das ist ein Leben, angefüllt mit Ereignissen dieses 20. Jahrhunderts, die man nicht stückweise herausbrechen kann um zu sagen, bis dahin gingen die Repressionen und danach gab es keine mehr.

N. BOLTJANSKAJA: Bitte berichtigen Sie mich, wenn ich falsch liege. Es gab den 20. Parteitag(1), es gab die kurze Tauwetterperiode mit einigen Veröffentlichungen. Danach setzte langjähriges Schweigen ein. Schließlich kam die Perestrojka, und wieder begann man, über diese schreckliche Epoche im Leben der Sowjetunion zu sprechen. Nun gibt es die Menschen, die Sie interviewen – und Aljona hat ganz Recht, wenn sie sagt, das sind konkrete Personen. Also ein realer Mensch, der von sich sagen kann: „Das ist mir, meiner Familie oder meinen Verwandten passiert“. War das ihr Hauptmotiv, oder wovon sind Sie hier ausgegangen?

I. OSTROWSKAJA: Ich denke, das war unser Hauptmotiv, denn Sie müssen verstehen, dass zeitgleich mit der Gründung unserer Gesellschaft MEMORIAL auch diese gewaltige Aufgabe erwuchs, alle Betroffenen zu nennen und ihre Geschichte festzuhalten.

N. BOLTJANSKAJA: Das ist unmöglich.

I. OSTROWSKAJA: Ja, das waren romantische Zeiten, als es schien, dass wir von einem gemeinsamen Impuls getragen werden! Jetzt sehen wir unsere Aufgabe lediglich darin, zu bewahren und aufzuzeichnen, was noch aufgezeichnet werden kann.

N. BOLTJANSKAJA: Und auch nur das, wovon die Leute bereit sind zu erzählen. Denn wieweit öffnen sich Zeitzeugen und Angehörige jener, die unter diese Walze gerieten? Schließlich handelt es sich doch nicht um die glücklichste Zeit ihres Lebens…

A. KOSLOWA: Nun, ich denke, wenn wir vor 20 Jahren so massiv mit den Aufzeichnungen angefangen hätten – und wir begannen ja tatsächlich mit den Aufzeichnungen – so muss man auch begreifen, was für einen Weg wir in dieser Zeit zurückgelegt haben, was uns damals interessierte, was uns die Leute damals, Ende der 80er Jahre, erzählten und was uns heute erzählt wird. Denn anfangs interessierte uns die Faktenlage, was wirklich geschehen war, da wir sehr wenig über diese Zeit wussten.

Wir hatten zwar Memoiren, die nach dem 20. Parteitag erschienen waren, aber das waren Memoiren von Menschen, die eine klare politische Haltung besaßen. Sie schrieben ja über das Leid aufrechter Kommunisten, über deren Leid. Der 20. Parteitag brachte diese Art von Erinnerungen hervor. Und wir wollten die Wahrheit wissen, wie es war, wie die Verhaftungen abliefen, die Untersuchungshaft, die Verhöre, diese ganzen Fakten. Das haben uns die Leute erzählt, und darüber, was sie in dieser Zeit durchmachen mussten.

I. OSTROWSKAJA: Das ist das Problem des Sowjetmenschen, der sein Leben lebt und selbst nicht begreift, wer er ist, wohin ihn sein Weg führen wird, wie er sich verhalten, was er tun soll… Wie soll man sich einfügen und sein Leben an diese Bedingungen anpassen? Uns haben wirklich Menschen vom absolut katastrophalen Schicksal der eigenen Familie berichtet, um am Ende zu sagen: „Nun, was sollten wir machen? So waren die Regeln. Wir mussten gehorchen.“ Wie kleine Kinder. Kleine Kinder, die nicht auf die Eltern hören wollen, aber müssen.

N. BOLTJANSKAJA: Und gibt es viele solcher Fälle?

I. OSTROWSKAJA: Nein, es sind nicht viele, aber es gibt sie. Diese Menschen waren von der Kulakenverfolgung betroffen, und es sind ganz, ganz einfache Leute, die ihr ganzes Leben auf dem Dorf gewohnt haben. Die Gespräche mit uns waren für sie eine einmalige Lebenserfahrung.

N. BOLTJANSKAJA: Wieweit öffnen sich Ihnen Ihre Gesprächspartner?

I. OSTROWSKAJA: Das ist eine gute Frage, denn die Wesensmerkmale des Sowjetmenschen sind Vorsicht und Angst. Es ist schrecklich, davon zu erzählen und gefährlich, sich darüber auszutauschen. Selbst den eigenen Familienmitgliedern sollte man nicht von seinem Leid berichten. Man kann viel darüber spekulieren, ob die Sprachlosigkeit zwischen den heutigen Generationen vielleicht damit begründet ist.

N. BOLTJANSKAJA: Ich habe mir Ihren Fragebogen angesehen, den die Projektteilnehmer unterschreiben und damit ihr Einverständnis geben. Darin gibt es einen Punkt, dass ein Pseudonym verwendet werden kann. Gibt es viele Gesprächspartner, die ihren wahren Namen nicht nennen und ihre Person hinter einem Pseudonym verbergen wollen?

I. OSTROWSKAJA: Mir ist das einmal passiert.

A. KOSLOWA: Mir auch. Aber häufig haben die Leute Angst darüber zu sprechen. Wobei nicht die Opfer Angst haben, darüber zu sprechen, sondern die Kinder verbieten den Eltern mit uns oder wem auch immer darüber zu sprechen. Das veranschaulicht, wie Angst vererbt wird. Sie sahen, wie sich die Eltern fürchteten, wie gefährlich es war, mit der elterlichen und der eigenen Biographie zu leben. Wie die Eltern ihnen höchstpersönlich einschärften: „Sprich nicht auf dem Hof darüber, sprich mit niemandem darüber.“ Verstehen Sie, was hier vorgeht? Das ist schon die zweite oder auch dritte Generation, die ihren Kindern die Geschichte ihrer Familie nicht erzählt. Das bedeutet, dass schon die 3. Generation in Folge Biographien gelöscht, verödet und so angepasst werden, dass man mit ihnen in diesem Land leben kann. Man hat nicht nur die Fotos von Verwandten, die Geistliche oder Adlige waren oder die irgendwann einmal das Land verlassen hatten, aus den Alben entfernt, sondern sämtliche Verbindungen zu ihnen abgebrochen. Nicht jeder hatte schließlich das Glück, aus einer Arbeiter-und-Bauern-Familie zu stammen. Und die bizarre Folge davon ist, dass es für einen Menschen vorteilhafter war, Waise zu sein – eigentlich ein schreckliches Los –, aber das war wirklich von Vorteil.

N. BOLTJANSKAJA: Der Mensch strebt schließlich danach, als etwas Besseres zu erscheinen, nicht wahr? Und es gab ja einige Fälle, in denen sich Kinder oder Verwandte von ihren verhafteten oder verfolgten Angehörigen losgesagt haben. Gab es denn später Versuche, das Geschehene wiedergutzumachen?

I. OSTROWSKAJA: Ich denke, davon gibt es mehrere Fälle, doch sie sind uns gerade als scharfer Gegensatz zu dem bekannt, wie die Mehrzahl reagierte. Denn das kennen wir auch aus der Literatur oder den Memoiren. Die Geschichte verlief klassischerweise so: Man schreibt das Jahr 1937, der Mann wird verhaftet und alle raten dir: „Fahr weg, versteck dich, ändere deinen Nachnamen, lass dich scheiden, versteck dich, nimm die Kinder und lauf.“ „Wie kann ich denn fortlaufen? Er sitzt doch grundlos, er ist doch völlig unschuldig. Ich muss doch für ihn kämpfen, für ihn eintreten. Wer soll ihm denn Nachrichten überbringen?“ Ich glaube, das spiegelt die Mehrzahl der Fälle wider. Und das, wovon Sie sprechen, sind genau die Ausnahmen, die ihren Schatten darauf werfen.

N. BOLTJANSKAJA: Das heißt, dass bei der Mehrheit ihrer Gesprächspartner das menschliche Mitgefühl überwog?

A. KOSLOWA: Der erste Impuls war immer das menschliche Mitgefühl, dieses Verhalten war wirklich im Allgemeinen anzutreffen. Selbst nach Erlass des berüchtigten NKWD-Befehl 00486 vom15. August 1937, der schwarz auf weiß vorschrieb, die Ehefrauen gleich nach den Männern festzunehmen und dass die Frau der Haft und Verurteilung entgehen konnte, wenn sie ihren Ehemann denunzierte und auf diese Weise das Strafverfahren gegen ihn eröffnet werden konnte. Das sind Einzelfälle. Und auch die Fälle, in denen sich Frauen von ihren Männern losgesagt haben, gab es auch nicht so häufig. Wobei diese Fälle häufig vorher mit dem Mann abgesprochen waren. Verstehen Sie, was ich meine?

N. BOLTJANSKAJA: „Wenn man mich verhaftet, sag dich von mir los…“

A. KOSLOWA: Natürlich, das waren formale, oder, wie man heute sagen würde, fiktive Ehen, die fiktive Scheidungen zur Folge hatten. Das heißt, sie fanden wirklich statt, aber er sagte: „Alle aus meiner Familie werden verhaftet, mich werden sie auch verhaften. Lass uns scheiden, damit du fortfahren kannst.“ Das gab es häufig, aber das war abgesprochen.

I. OSTROWSKAJA: Und hat dennoch nicht geholfen.

A. KOSLOWA: Ja, geholfen hat es dennoch nicht, aber das wussten die Leute ja nicht. Und als Absicht stand die Rettung der Familie dahinter.

N. BOLTJANSKAJA: Das, wovon Sie berichten, ist das einfache menschliche Schicksal, um das es sich bei Ihrem Projekt wahrscheinlich handelt. Sie haben mir vorhin die Geschichte von der Blume erzählt. Könnten Sie sie unseren Hörern und Zuschauern nochmals zu Gehör bringen? Danach stelle ich meine Frage.

A. KOSLOWA: Diese Geschichte hat uns eine Frau erzählt, die damals noch ein kleines Mädchen war. Ihr Vater wurde als rechter Trotzkist und Diversant verhaftet, einige Monate später wurde ihre Mutter auf Grundlage des Augustbefehls von 1937 verhaftet. Sie wurden aus der Wohnung ausquartiert und bewohnten eine Art Kellerraum. Das Mädchen geht nun auf dem Weg zur Schule über den Hof ihres ehemaligen Hauses, schaut hinauf zum Fenster der nun versiegelten Wohnung und sieht, dass im Fenster ihres Zimmers eine Topfblume aufgeblüht war. Die Blume ist wunderschön und sie geht, schaut hinauf und denkt bei sich: „Lieber Gott, wie schön sie ist. Man müsste sie Stalin schenken.“

N. BOLTJANSKAJA: Wo verläuft die Grenze zwischen „Diese Blume müsste man Stalin schenken.“, und „Ja, er wurde verhaftet, aber jemand muss ihm doch die Nachrichten überbringen, jemand muss auf ihn warten, und ich werde mich nicht von ihm lossagen.“

A. KOSLOWA: Aber verstehen Sie doch, Stalin wurde dafür doch gar nicht verantwortlich gemacht.

I. OSTROWSKAJA: Warum soll man eine Grenze ziehen? Hier gibt es keine Grenze, das gehört zusammen. Stalin war nie und für nichts schuld. So wurde es eingetrichtert und so hat es sich übrigens bis heute bei vielen Menschen im Gedächtnis verankert: Stalin ist absolut unschuldig. Er hat dort im Kreml an uns gedacht und war dabei von gemeinen Feinden umzingelt, die ihm zuflüsterten und ihn überzeugten. Oder vielleicht weiß er überhaupt nicht Bescheid. Und es gibt Unmengen von Briefen „Lieber Onkel Stalin, mein Papa ist unschuldig. Helfen Sie mir, die Wahrheit herauszufinden.“

A. KOSLOWA: Nicht umsonst wollen heute viele, viele Menschen, die Einsicht in die Akte ihrer Angehörigen erhalten, zunächst einmal wissen, von wem sie denunziert wurden. Verstehen Sie? Auch dabei wurde ein spezielles Instrumentarium zur Atomisierung der Gesellschaft verwendet, damit jeder jeden verdächtigte. Um den Glauben an Freundschaft zu untergraben, wurden Freunde unter Druck gesetzt und der Glaube an Freundschaft und Kollegen wurde untergraben. Jener berüchtigte Befehl 486 diente der gezielten Zerstörung der Familie und erhöhte den Verrat zur Heldentat. Der Verrat an der Familie als Heldentum. Und wahrscheinlich ist das der Grund, warum auch heute noch viele sich die Repressionen damit erklären, dass die Leute sich gegenseitig denunzierten. Und die Erklärung wird vom Staat weg und hin zu den Menschen verlagert, d.h. das war nicht staatliche Politik, sondern eine menschliche Eigenschaft.

N. BOLTJANSKAJA: Wir hatten ja beschlossen, dass wir heute von den Menschen und nicht über den Staat sprechen wollen, nicht wahr? Inwieweit gehört denn die Angst, Denunziation und die Abkehr von Angehörigen zum Wesen des Menschen?

A. KOSLOWA: Zunächst einmal gab es nicht so viele Denunziationen, wie man glauben möchte oder wie man es den Leuten eingetrichtert hat.

N. BOLTJANSKAJA: Lassen Sie uns das bitte klären, Aljona. Wenn ein Mensch verhaftet wird und nach sieben Tagen Verhör unter Anwendung aller denkbaren Verhörmethoden – seiner Sinne schon nicht mehr mächtig – die Namen jener nennt, die man aus ihm herausprügelt…, ist das eine Denunziation oder nicht?

A. KOSLOWA: Nein, das ist natürlich keine Denunziation.

I. OSTROWSKAJA: Natürlich nicht. Aljona sprach davon, dass viele Menschen damals und auch heute glauben, dass sie zum Opfer wurden, weil der Nachbar das Zimmer in der Kommunalka haben wollte oder jemand in die Mutter verliebt war und auf diese Weise seinen Konkurrenten loswerden wollte. Sie glauben wirklich daran. Und unsere Haltung in dieser Sache ist bizarr und kompliziert, und wie soll man sie auch vom Gegenteil überzeugen? Erstens kann man niemanden vom Gegenteil überzeugen und zweitens ist das auch nicht unsere Aufgabe. Und letztlich war nicht das Zimmer der Grund.

N. BOLTJANSKAJA: Obwohl das Zimmer es auch sein konnte.

I. OSTROWSKAJA: Selbst wenn es deswegen eine Denunziation gab, würde das nichts an der Sache ändern.

N. BOLTJANSKAJA: Im unsterblichen Werk „Der Meister und Margarita“ von Bulgakow stellt Voland deshalb Aloisi Mogarytsch zur Rede und wirft ihm vor, dass er den Meister denunziert hatte, weil ihm dessen Wohnung gefiel.

A. KOSLOWA: Nun, es gibt immer Leute, die die Lage ausnutzen.

N. BOLTJANSKAJA: Wie viele Menschen haben Sie denn bis heute schon interviewt?

I. OSTROWSKAJA: Meinen Sie die Videointerviews?

N. BOLTJANSKAJA: Sowohl die Videointerviews als auch die anderen Aufzeichnungen ohne Bild.

I. OSTROWSKAJA: Also wissen Sie, wir haben wirklich viel… Und unser Interesse ist breitgefächert. Zum Beispiel haben wir jahrelang mit den so genannten Opfern zweier Diktaturen gearbeitet. Das sind Menschen, die zunächst während des Krieges ins Lager kamen oder zu Zwangsarbeit verurteilt wurden und dann wieder hierher zurückkamen. Jedes Schicksal ist einmalig. Jeder Mensch stellt eine völlig einmalige Welt, ein absolut einzigartiges Schicksal dar.

 

N. BOLTJANSKAJA: Gibt es ein besonders einprägsames Interview, an das Sie sich erinnern? Zum Beispiel erwähnten Sie die Opfer zweier Diktaturen. Was hat bei Ihnen die vielleicht heftigste Reaktion hervorgerufen?

I. OSTROWSKAJA: Ich denke, bei jedem Interview gibt es einen Moment – sei es eine bestimmte Episode oder unerwartete Wendung – die einem den Atem nimmt, und man hört zu und kann nicht glauben, wie ein Mensch das überleben konnte. Und was unsere Eindrücke angeht, wissen Sie, ich arbeite seit 10 Jahren an diesem Projekt, Aljona noch länger. Ich habe in dieser Zeit gelernt, dass in einem Leben alles passieren kann. Das Leben schreibt die verrücktesten Drehbücher, man kann sich gar nicht vorstellen, welche Wendungen das Leben nehmen kann.

N. BOLTJANSKAJA: Nun zur Geographie: Bei der Vorstellung des Projekts gab es mehrere Interviewausschnitte aus dem Gebiet Woronesch. Weshalb ausgerechnet von dort?

A. KOSLOWA: Wir sind immer darum bemüht, geographisch breit zu arbeiten. Das Moskauer Publikum ist sehr speziell, und auch jede Region hat ihre Eigenheiten und regionale Erinnerungskultur. Und daraus ergeben sich sehr unterschiedliche Interviews: die Menschen empfinden anders, ihre Schicksale und auch weiteren Lebenswege sind sehr verschieden. Warum das Gebiet Woronesch? Dieser Verwaltungsbezirk ist beispielhaft für die zentrale Schwarzerde-Region in Russland. Hier kann man Beispiele für alle Formen der Repression finden, und diese Region war auch teilweise vom Krieg betroffen.

N. BOLTJANSKAJA: Das heißt, sie stellt eine Art Querschnitt dar?

A. KOSLOWA: Ja, eine Art Querschnitt, was sich auch in den Interviews widerspiegelt. Aber vielleicht heucheln wir hier ein wenig, wenn wir mit Querschnitt das Gewöhnliche meinen. Wir waren z.B. in einem Dorf namens Nowy Kurlak. Und Nowy Kurlak ist kein gewöhnliches, sondern ein mitreißendes Dorf, weil an seiner Dorfschule bereits 1945 von einem Kriegsheimkehrer und späteren Schulleiter eine interessante Tradition begründet wurde. Der Enthusiasmus dieses Menschen brachte die Schüler dazu, sich die Dinge genau anzuschauen und ihnen auf den Grund zu gehen. So wurde eine Forschungstradition in Nowy Kurlag begründet, die von mehreren Lehrergenerationen fortgesetzt und unterstützt wurde. Viele der Dorflehrer waren in Nowy Kurlak geboren und wurden später Lehrer an dieser Schule. Zwei von ihnen haben wir interviewt. Sie gehören zur dörflichen Intelligenz. Eine unserer Gesprächspartnerinnen hat als Lehrerin zahlreiche Arbeiten geleitet, die im Rahmen des MEMORIAL-Geschichtswettbewerbs bei uns eingereicht wurden. Sie selbst stammt aus einer Familie, die unter der Kulakenverfolgung zu leiden hatte.

N. BOLTJANSKAJA: Es heißt, die Arbeiten von dort seien besonders ergreifend.

A. KOSLOWA: Ja, sie sind wirklich ergreifend. Und während uns die Lehrerin davon erzählte, wie sie im Archiv Personenlisten im Zusammenhang mit der Kulakenvervolgung im Nachbardorf entdeckten, sagte sie: „Und ich musste die ganze Zeit daran denken, dass ganz in der Nähe auch die Akten meines Heimatdorfs lagen, mit Informationen darüber, wie mein Vater und Großvater der Kulakenverfolgung zum Opfer fielen. Und ich hatte solche Angst davor, um Akteneinsicht zu bitten. Niemand kennt mein Schicksal, und dann würden die Fragen beginnen: ‚Wofür brauchst du sie denn?’, und ich müsste dann darüber erzählen.“ Und dann versteht man, dass ein intelligenter Mensch, der sich mit der Geschichte der Kulakenverfolgung beschäftigt, nicht in der Lage ist, theoretisch über Geschichte zu berichten, solange er dieses unausgesprochene Leid in sich trägt.

N. BOLTJANSKAJA: Hier eine Frage von Raissa: „Hatten Sie auch mit Menschen zu tun, die zuerst selbst gefoltert haben und später verhaftet wurden? Was haben die denn zu berichten?“

I. OSTROWSKAJA: Jene, welche verhaftet und später erschossen wurden, haben verständlicherweise uns nichts mehr berichten können. Also befragen wir die Kinder, die man sich selbst und dem Lauf des Schicksals überlassen hatte: der Vater erschossen, die Mutter wurde auf der Grundlage des oben erwähnten Strafbefehls in Lager geschickt, und das Kind blieb total allein zurück.

N. BOLTJANSKAJA: Und darunter befinden sich eben viele, deren Väter vorher diese angesprochenen Positionen innehatten, nicht wahr?

I. OSTROWSKAJA: Ja, natürlich. Und wir wollen alles wissen, alle Facetten erfassen: Wie überlebten sie? Wie hielten Sie den Kontakt aufrecht? Wie gestaltete sich anschließend das Verhältnis zur Mutter? Wir reden hier von einer Zeitspanne von 15 Jahren. Stellen Sie sich vor, die Mutter musste fort, als das Kind 3 Jahre alt war.

N. BOLTJANSKAJA: Das hat der Sänger Bulat Okudschawa beschrieben.

I. OSTROWSKAJA: Nun, Okudschawa können wir lesen. Aber in unserem Fall schauen wir dem Menschen in die Augen, wenn er uns von seinem Schicksal erzählt. Sie war zarte 3 Jahre alt…, und als die Mutter zurückkam, war sie 18 Jahre alt. Und natürlich versucht sie zu begreifen, wer war mein Vater? Die betroffenen Väter hatten die unterschiedlichsten Berufe: Staatsanwälte, Mitarbeiter der Sicherheitsorgane, Tschekisten. Und diese Menschen, die aktiv an den Repressionen beteiligt waren, gerieten nun selbst unters Rad. Aber für das Mädchen ist er der Vater, der Papa. Aljona und ich bekommen anfangs häufig zu hören: „Na ja, ich werde Ihnen berichten, aber wissen Sie, dass mein Vater für die Sicherheitsorgane tätig war?“ „Ja, das wissen wir, na und? Hier geht es doch um Ihr Schicksal und um unsere Geschichte.“ Und deshalb können wir jetzt auch versuchen, eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb wir das alles sammeln.

N. BOLTJANSKAJA: Genau.

I. OSTROWSKAJA: Weshalb? Es gibt Memoiren, wir haben ca. 200 Berichte zusammengetragen. Brauchen wir deshalb den 201., den 204. Bericht? Was glauben Sie?

N. BOLTJANSKAJA: Nun, wenn ich davon ausgehe, was Aljona zu Beginn gesagt hat, dass es darum geht, den Menschen in die Augen zu schauen, ihre persönlichen Eindrücke zu erfahren… Sie wissen das sicherlich besser, aber wahrscheinlich gibt es keine zwei persönlichen Eindrücke, die sich gleichen, nicht wahr?

I. OSTROWSKAJA: Nein, es gibt kein Schicksal, das dem anderen gleicht.

N. BOLTJANSKAJA: Wenn wir also davon ausgehen, brauchen Sie sowohl den 201. als auch den 1201. Bericht und so fort?

I. OSTROWSKAJA: Ja, auch den 1201. und alle übrigen Berichte.

N. BOLTJANSKAJA: Und wie finden Sie Ihre Interviewpartner? Wie erfolgt die Kontaktaufnahme, schließlich gibt es doch überall in Russland Menschen, die ihre potentiellen Gesprächspartner sind. Wie finden Sie zueinander?

A. KOSLOWA: Nun, zunächst einmal hat unser Moskauer Memorial-Büro an drei Tagen in der Woche für das breite Publikum geöffnet. Dienstags, mittwochs und donnerstags haben wir geöffnet und werden von Menschen aufgesucht, die etwas über ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern erfahren wollen. Sie kommen zu uns, weil sie nicht wissen, wo sie die entsprechenden Dokumente finden können und weil sie ihre Angst überwunden und beschlossen haben, etwas erfahren zu wollen. Und wenn sie zu uns kommen und zu erzählen beginnen, dann zunächst einmal deshalb, damit wir verstehen, wie man ihnen helfen kann. Und dann ist es ihnen wichtig, darüber zu berichten. Manchmal sind wir die ersten, denen sie sich anvertrauen. In solchen Fällen fragen wir sie, ob sie zu einem Interview bereit wären. Und so gibt es Memorial-Büros in vielen Städten, und dorthin kommen die Leute, die unsere Hilfe in dieser oder jener Form benötigen.

N. BOLTJANSKAJA: Sie haben jene erwähnt, deren Eltern hohe Positionen bekleidet hatten. Das ist auch so eine schreckliche Sache, dass aus früheren Opfern Henker und aus ehemaligen Henkern Opfer wurden. Vor einigen Jahren bemühte sich Jeschows(3) Stieftochter darum nachzuweisen, dass ihr Vater kein Spion für ausländische Geheimdienste war. Stimmt es, dass er es nicht war?

A. KOSLOWA: Ja, das stimmt.

I. OSTROWSKAJA: Ja, das stimmt.

N. BOLTJANSKAJA: Und andererseits gibt es diese Rehabilitationslisten… Wie soll ich sagen… zwar war er kein ausländischer Spion, aber er hat doch massenhaft Erschießungsbefehle unterzeichnet, nicht wahr? Ist das nicht eine Art Relativierung von Opfern und Henkern?

I. OSTROWSKAJA: Wir sprechen hier von zwei verschiedenen Dingen. Wenn wir uns der Sache ganz formal nähern und uns anschauen, wessen Jeschow beschuldigt wurde, so ist die Anklage wie immer völlig absurd. Wir führten auch einmal intern so eine Rubrik „Absurdität der Anklage“. So wurde Angeklagten z.B. unterstellt, sie hätten die Absicht gehabt, einen Heizkörper aus ihrem Fenster auf den vorbeifahrenden Stalin zu werfen. Dabei war es vollkommen gleichgültig, ob es überhaupt einen Heizkörper oder ein Fenster gab. Oder man beschuldigte jemanden, sich dem Fallschirmspringen gewidmet zu haben, um auf das Mausoleum zu springen und dabei Stalin unter sich zu erdrücken

A. KOSLOWA: Oder man beschuldigte jemanden, ein lateinischer Spion oder Bibliothekar gewesen zu sein – wortwörtlich: lateinischer Spion – weil derjenige Latein konnte.

I. OSTROWSKAJA: Und Latein konnten alle, die das Gymnasium absolviert hatten.

A. KOSLOWA: Verstehen Sie, wie absurd die Anklagen waren? Ich glaube, der Grund hierfür war eine Heuchelei, die sich über das ganze sowjetische Leben legte. Bei uns herrschte Internationalismus, aber die Menschen wurden nach ihrer nationalen Zugehörigkeit deportiert. Bei uns war der Sohn nicht für den Vater verantwortlich, aber wir sind gut vertraut mit jenen sozial gefährlichen Elementen, die ihren Eltern in die Lager der UdSSR folgten.

I. OSTROWSKAJA: Sobald ein Kind 15 Jahre alt wurde, wurde es ins Lager gesteckt.

A. KOSLOWA: Der Hunger nannte sich Produktionsausfall… Verstehen Sie, weder in der Presse noch in den geheimen oder offiziellen Unterlagen fand sich ein wahres Wort.

N. BOLTJANSKAJA: Wie bringen Sie denn die Wahrheit zu Tage? Ich kann mir vorstellen, dass, wenn die Eltern eines Kindes verhaftet wurden, die Angehörigen dem Kind nicht sofort die Wahrheit sagten. Wahrscheinlich wurden auch dafür spezielle Sprachregelungen erfunden, die nicht den wahren Tatsachen entsprachen. Wie können Sie das heute klären?

A. KOSLOWA: Wissen Sie, diese Wahrheit, von der Sie sprechen, kannten die Kinder. Aber wie sie sich verhalten sollten, das erklärten ihnen natürlich die Erwachsenen. Keiner kann sich heute noch daran erinnern, wie man ihn damals als Kind über die Situation aufklärte. Sie sagen, dass sie immer davon wussten und dass sie immer dazu schweigen sollten.

I. OSTROWSKAJA: Warum darf man darüber nicht laut sprechen? Man muss schweigen. Warum darf man draußen nicht erzählen, worüber in der Küche gesprochen wurde? Mein Gott, dass wurde uns doch auch noch in den 1970-er Jahren eingeimpft: Alles, worüber wir zu Hause sprechen, hat in der Schule, auf der Straße, auf dem Hof nichts zu suchen. Das wurde so weitergegeben.

N. BOLTJANSKAJA: In einem Ihrer Interviews wird darüber berichtet, wie der Vater von der Front zum Sohn ins Lager fährt. Offen gestanden, hat mich das sehr verwundert. Weil man für gewöhnlich dachte, dass die Leute nach ihrer Deportation von allem getrennt wurden und waren. Und hier gab es ein Wiedersehen. Der Vater einigt sich mit dem Lagerleiter in einer Atmosphäre soldatischen Einverständnisses… irgendwie eine völlig verrückte Geschichte.

I. OSTROWSKAJA: Ich glaube, hier haben wir es mit einem Missverständnis zu tun. Alle kennen das klassische Urteil „10 Jahre Lagerhaft ohne Recht auf Briefwechsel“. Und alle glauben jetzt, dass man sich tatsächlich nicht schreiben durfte. „10 Jahre ohne Recht auf Briefwechsel“ ist auch so ein Euphemismus, der in Wahrheit bedeutete, dass der Mensch erschossen wurde. Alle anderen konnten sich schreiben, Päckchen schicken und zu Besuch kommen.

A. KOSLOWA: Zu unterschiedlichen Zeiten gab es unterschiedlich strenge Auflagen. Jede Zeit hatte ihre eigenen Regeln in Bezug darauf, was erlaubt war oder nicht. Und es bleibt festzuhalten, dass die Leute das Recht hatten, sehr selten Briefe zu schreiben und in manchen Jahren auch zu empfangen.

I. OSTROWSKAJA: Das war auch von Lager zu Lager verschieden.

A. KOSLOWA: Wir wissen aus vielen Erzählungen, dass vor dem Krieg die Kinder zu ihren Müttern fuhren, um sie im Lager zu besuchen. Es gibt erschütternde Erzählungen darüber, wie die Kinder sich wochenlang von Moskau nach Kasachstan und von Zug zu Zug durchschlugen, am 22. Juni(2) ankamen und man ihnen das Wiedersehen verweigerte. Oder sie wollten zurückkehren und blieben dort, um doch noch die Mutter zu sehen, oder weil die Heimfahrt unmöglich geworden war.

I. OSTROWSKAJA: Wir haben auch bemerkenswerte Berichte über illegale Besuche.

N. BOLTJANSKAJA: Wie war das möglich?

I. OSTROWSKAJA: Das hat sich so ergeben.

A. KOSLOWA: Überall konnte man sich einigen. Und was den Frontsoldaten betrifft, der seinen Sohn im Lager besuchen wollte, so ist diese Geschichte wahr. Der Lagerleiter hatte früher auch als Soldat an der Front gekämpft und hier hatte man eine gemeinsame Sprache gefunden, sodass der Lagerleiter die Regel missachtete und das inoffizielle Wiedersehen ermöglichte.

N. BOLTJANSKAJA: Mich hat die Geschichte des Frontsoldaten, der seinen Sohn im Lager besuchte, verblüfft. Gab es für Sie etwas, dass Ihnen unwahrscheinlich vorkam, etwas Unerwartetes, das Ihre Vorstellung davon, wie alles war, geändert hat?

A. KOSLOWA: Ungeachtet dessen, dass jedes Schicksal einzigartig ist, gibt es auch ein gewisses Schema. Wenn der erschossene Vater zum unerreichbaren Ideal wird, wenn ihm das ganze Leben und Andenken gewidmet ist und er am Ende wirklich zu einem Mythos wird. Und gleichzeitig gibt es da die Mutter, die aus dem Lager heimkehrt, zu der man ein sehr schwieriges Verhältnis hat, die oft weder im Wesen noch im Äußeren der Erinnerung des Kindes entspricht. Wenn sich zum Beispiel der Sohn mit der Aufarbeitung des Lebens seines Vaters beschäftigt und dieses Stück für Stück rekonstruiert und plötzlich begreift, dass dieser Vater an vielen grausamen Vorgängen beteiligt war, dann verliert der Sohn komplett den Boden unter den Füßen, er verliert seine Lebensstütze. Und es gibt nichts, womit er die plötzliche Leere füllen könnte. Und in so einem Fall wendet er sich wieder dem Bild zu, das er sich von seiner Mutter gebildet hat. Er braucht diesen Eckstein, an den er sich klammern kann. Und nun wird die Mutter zu seiner Heldin. Das kommt sehr selten vor und selten entsteht ein objektives Bewusstsein darüber, was für ein Mensch der verlorene Vater wirklich war. Vielleicht ist das auch nicht immer notwendig, da ja auch der Sinn des Lebens sich daraus speist.

N. BOLTJANSKAJA: Eine Art Entmystifizierung.

A. KOSLOWA: Mystifizierung, ja. Aber Verzweiflung erträgt der Mensch nur schwer.

N. BOLTJANSKAJA: Wie sind Ihre Eindrücke? Viele Journalisten rieben sich bei der Vorstellung Ihres Projekts verstohlen die Augen. Da sieht man eine alte Frau, die von ihrem Leben erzählt, wie sie unter der Kulakenverfolgung litt. Und das Erzählte liegt viele Jahre zurück. Und plötzlich beginnt sie zu weinen, und jeder hat den Eindruck, dass diese Frau ganz bestimmt nicht selbstmitleidig ist, sondern ihre Gefühle bis zu jenem Moment zurückgehalten hat. Und plötzlich beginnt sie zu weinen, reißt sich das Tuch vom Kopf um sich zu schneuzen…, das ist kaum zu ertragen. Wie gehen Sie damit um, wie verarbeiten Sie solche Erlebnisse?

A. KOSLOWA: Das war Nina Fominitschna, und wissen Sie, das hat tatsächlich einen starken Einfluss auf uns, wenn wir einem Menschen zuhören und mit ihm fühlen. Das einzige, was wir für einen tun können, wenn er das Erlebte erneut durchleidet, ist wahrscheinlich unser Mitgefühl mit ihm zu teilen, da es unmöglich ist, die eigenen Gefühle nicht zuzulassen. Und Irina hat schon erwähnt, dass wir mittlerweile begriffen haben, dass im Leben alles Mögliche passieren kann, nicht wahr? Und wir haben begriffen, dass die Menschen alles überwinden können. Und das, was sie für ihre Familien getan haben, sind echte Heldentaten, da sie diesem Regime wahren Widerstand entgegengesetzt haben.

N. BOLTJANSKAJA: Worin bestand der Widerstand?

A. KOSLOWA: In der Bewahrung der Familie, der Liebe, nicht zum Verräter zu werden, im Leben und bei der Rückkehr ins Leben zum Wohl der Angehörigen, der Kinder, des Vaters. Dieselbe Frau hat auf die Frage, was für sie Glück bedeutet, geantwortet: „Dass meine Eltern lange durchgehalten haben, dass sie uns sechs Kinder nicht zu Waisen gemacht haben, dass sie überlebten.“ Alle sind im Dezember gestorben, und sie hat jeden Tag gezählt, den die Eltern am Leben blieben, ihnen halfen, das hat sie glücklich gemacht. Und dass die Kinder später ihr Leben lang den Eltern halfen, diese Einheit, dieser Halt, den sie einander gaben, als sie sich gegenseitig halfen; nur so haben sie überlebt. Und das war eine Heldentat und gleichzeitig Widerstand und ihr Glück.

N. BOLTJANSKAJA: Wie sieht die Zukunft dieses Projekts aus? Es gibt Bild- und Tonaufzeichnungen, vielleicht auch handschriftliche Aufzeichnungen. Wie geht es jetzt weiter? Was passiert mit diesen Erinnerungen?

I. OSTROWSKAJA: Zunächst einmal verwenden wir bereits die Videointerviews für verschiedene thematische Zusammenstellungen. Denn wenn wir die Gespräche aufnehmen, begrenzen wir uns nie auf nur ein Thema. Das ist das Leben eines Menschen, wir dürfen nicht nur einzelne Dinge rausreißen. Wir bitten jedes Mal darum, sich genau und ausführlich an die Kindheit und den Alltag zu erinnern. Wie soll man sonst alles verstehen können?

N. BOLTJANSKAJA: Auch an die glücklichen Tage bevor…?

I. OSTROWSKAJA: Natürlich auch an die glücklichen Tage. Wie sollen wir denn mit Hilfe der Lehrbücher oder Enzyklopädien verstehen, wie die Menschen lebten? Was macht denn unsere Geschichte aus? Wie die Menschen lebten. Und hier ist der Unterschied zwischen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen. Bei der Schriftform setzt man sich, nimmt ein Blatt Papier und beginnt so zu schreiben, wie man es gelernt hat, und ist darum bemüht, das so schön wie möglich zu machen, indem man die Worte und Satzzeichen bewusst wählt. Und wenn wir uns mit jemandem verabreden, dann merken wir, dass sich unser Gesprächspartner auf unser Gespräch vorbereitet hat. Und besonders die Männer lieben es dann, von ihren beruflichen Erfolgen zu reden, wo sie gelernt haben, wofür sie ausgezeichnet wurden und wie man ihnen zum Renteneintritt z.B. eine Kristallvase schenkte. Und wenn ich dann frage: „Und was haben Sie in ihrer Kindheit gespielt? Welche Bücher haben Sie damals gelesen? Wie haben Sie sich gekleidet?“ Dann kommt als Gegenfrage: „Interessiert das etwa jemanden?“ – „Natürlich! Mit wem waren Sie auf dem Hof befreundet? Ihr Vater wurde doch verhaftet…, wie verhielten sich die Nachbarn dazu? Wurden Sie als Miststück und Missgeburt eines Spions beschimpft oder wurden Sie umgekehrt zum Essen eingeladen, hat man Sie, das zurückgelassene Kind, durchgefüttert?“ Ist das denn nebensächlich? In den schriftlichen Erinnerungen finden wir kein Wort darüber. Und jetzt schlagen wir wieder den Bogen zum Anfang unseres Gesprächs, warum wir uns damit beschäftigen, warum wir überhaupt damit begonnen haben, mündliche Erinnerungen zu sammeln. Wir bewahren in unserem Archiv Dokumente und andere Papiere auf, z.B. Protokolle über Verhaftungen, Durchsuchungen, Freilassungsbescheinigungen, Briefe und vieles mehr. Aber hinter jedem Papier steht doch ein menschliches Schicksal. Und erst, wenn man darüber erzählt, wird es lebendig. Und deshalb sagen wir den Leute auch immer: „Bitte kommen Sie zu uns, berichten Sie uns und bringen Sie etwas mit.“ Unsere Aufgabe besteht auch im Sammeln von Dingen vergangener Epochen. Wir haben ein Museum und wollen Alltagsgegenstände sammeln, die den Geruch jener Zeit vermitteln können. In jedem Interview fischen wir förmlich danach. Uns interessiert nicht der gewöhnliche Lebenslauf nach dem Schema: Heirat, Taufe…

N. BOLTJANSKAJA: Aber das ist doch nur eine Seite der Geschichte. Der Geruch jener Zeit in den Empfindungen eines Menschen, der bis gestern das Nesthäkchen der Familie war und heute ein Paria, das sind doch zwei verschiedene Dinge, nicht wahr?

A. KOSLOWA: Ja, das sind verschiedene Dinge. Und Irina hat vorhin ganz richtig bemerkt, dass wir in den Erzählungen den Alltag suchen. Aber wissen Sie, welchen Alltag wir in jeder dieser Erzählungen finden? Repressionen als Alltag, das gesamte Land lebt in einem Zustand ständiger Verfolgung. Das ist der Alltag, das bestimmt das tägliche Handeln. Wenn ein Mensch täglich die Treppe hinuntergeht und dabei sieht, dass diese oder jene Tür versiegelt wurde, heute mein Vater verhaftet wurde, morgen der Vater eines Freundes oder umgekehrt. Verstehen Sie, der Alltag unter permanenter Verfolgung gebiert bestimmte Verhaltensregeln. Das ist eine Art Fragebogen oder Spickzettel für das eigene Leben, den man auswendig lernt. Das ist der Alltag.

I. OSTROWSKAJA: Und man achtet darauf, dass man die Fragen immer gleich beantwortet, damit keine Ungereimtheiten aufgedeckt werden.

A. KOSLOWA: Diese Erklärungen werden ausgedacht, um bestimmte Ereignisse zu erklären. Und ungeachtet dessen, dass diese Erklärungen ausgedacht sind, so können sie auch wahr werden, wenn es darum geht, bestimmte Dinge zu tun, um die Familie zu retten.

N. BOLTJANSKAJA: Wir sind am Ende unserer Sendung, und ich danke meinen beiden Gästen. Im Studio waren Aljona Koslowa, Archivleiterin bei MEMORIAL und Irina Ostrowskaja, Mitarbeiterin des Archivs. Beide sind die Projektverantwortlichen des Projekts „Der letzte Zeuge“, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Aussagen von Überlebenden des Stalinismus festzuhalten. Ich bedanke mich bei Ihnen. Das war das Programm „Im Namen Stalins “.

Aljona Koslowa und Irina Ostrowskaja bedanken sich herzlich bei allen Freiwilligen, die an diesem Projekt arbeiten oder arbeiteten.

 

Anm. d. Übers.:

(1) 1936bis 1938 der Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, verantwortlich für die von Stalin angeordnete „Große Säuberung“

(2) 22. Juni 1941 – Deutscher Überfall auf die Sowjetunion

(3) Nikolaj Iwanowitsch Jeschow: 1936 bis 1938 der Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, verantwortlich für die von Stalin angeordnete „Große Säuberung“

 

Quelle: http://echo.msk.ru/programs/staliname/584547-echo

 

Übersetzung der leicht gekürzten Fassung des Interviews aus dem Russischen von Irina Raschendörfer.

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