Drehbuch: Briefe, Pakete, Besuche

Briefe, Pakete und Besuche – das sind die wenigen und größten Freuden, die ein Gefangener in Stalins Lagern hatte. Die Briefe von Verwandten bestärkten ihn in dem Glauben, dass er nicht vergessen war. Lebensmittelpakete dienten dem elementaren Überleben, und die seltenen Besuche – wenn es dazu kam – waren ein ausgesprochenes Glück.

David Budjonny (1930-2011), 1950 wegen der Zugehörigkeit zu der Jugendorganisation „Kommunistischer Jugendverband“ verhaftet, zu 5 Jahren Lagerhaft verurteilt, die er in Lagern in Kasachstan verbüßte. Rehabilitiert. Lehrer an der Universität von Woronesch, Kandidat der Ökonomie.
Wladimir Kantowski, geb. 1923 in Moskau. Seine Eltern wurden politisch verfolgt. Als ihr Geschichtslehrer verhaftet worden war, verfassten und verbreiteten Kantowski und seine Freunde Flugblätter, in denen sie gegen diese Verhaftung protestierten. 1941 verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Haft wurde umgewandelt in eine fünfjährige Haftstrafe plus Verschickung an die Front in einem Strafbataillon. Im ersten Gefecht bereits wurde er verwundet. 1945 erneut verhaftet, zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Strafverbüßung in Molotowsk und Abes. Rehabilitiert. Ingenieur. Lebt in Moskau.
Jelena Markowa wurde 1923 in Kiew geboren. Die Eltern wurden politisch verfolgt, der Vater 1937 erschossen. 1941-1943 hielt sie sich im Gebiet Donezk im besetzten Gebiet auf. Nach der Befreiung dieses Gebiets durch die sowjetische Armee wurde sie von NKWD-Organen verhaftet und zu 15 Jahren Katorga verurteilt. Sie war zehn Jahre im Workutlag inhaftiert. Rehabilitiert. Doktor der technischen Wissenschaften. Lebt in Moskau.
Anna Matljuk (Peza) wurde 1927 in Tischkowez im Bezirk Gorodenkow, Gebiet Stanislawsk, geboren. 1944 wurde sie unter dem Vorwurf der Beteiligung an der ukrainischen Aufstandsorganisation verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Haft verbüßte sie zunächst im Lager „Bau 501“. Als dieser Bau geschlossen wurde, kam sie ins Osoblag zu allgemeinen Bauarbeiten. Rehabilitiert. Arbeitete als Kinderfrau in Kinderkrippen. Lebt in Petschora, Republik Komi.
Nikolai Nastjukow, geb. 1933 in Pawlowsk, Gebiet Woronesch. 1952 wurde er wegen Zugehörigkeit zu einer jugendlichen antisowjetischen terroristischen Organisation verhaftet. Er wurde zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt, die er im Retschlag (Flusslager) in Workuta verbüßte. Rehabilitiert. Kandidat der Biologie. Lebt in Woronesch.
Susanna Petschuro, geb. 1933 in Moskau. 1951 wurde sie im Alter von 17 Jahren als Mitglied der Jugendorganisation „Kampfbund für die Revolution“ verhaftet und zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt, die sie bis 1956 in den Lagern von Inta, Abes und im Zentralgefängnis von Wladimir verbüßte. Rehabilitiert. Historikerin und Archivarin. Lebt in Moskau.
Alexei Prjadilow (1927-2011) – 1943 als 16jähriger mit seinen Schuldfreunden wegen der Herausgabe der handschriftlichen satirischen Zeitschrift „Nalim“ verhaftet. Er verbrachte 13 Jahre in Lagern und Verbannung.
Wjatscheslaw Rudnizki, 1930 in Woronesch geboren. Er wurde 1949 wegen Mitgliedschaft in der Jugendorganisation „Kommunistischer Jugendverband“ verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, die er in Lagern in Kasachstan verbüßte. Rehabilitiert. Werkzeugschlosser. Lebt in Woronesch.
Maria Sewortjan (Giwargisowa), geb. 1928 in Rostow am Don. Ihre Eltern wurden politisch verfolgt, der Vater erschossen, die Mutter war als „Familienangehörige eins Vaterlandsverräters“ im Lager Akmolinsk für Frauen von „Vaterlandsverrätern“ inhaftiert. Regisseurin populärwissenschaftlicher Filme. Lebt in Moskau.
Juri Fidelgolz, geb. 1927 in Moskau. 1948 wurde er wegen Gründung einer antisowjetischen Organisation verhaftet. Er wurde zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt und war in den Lagern Tajschet und Kolyma inhaftiert. Rehabilitiert. Bauingenieur, Mitglied im Schriftstellerverband. Lebt in Moskau.
Vera Chudjakowa (Gekker), geb. 1922 in Potsdam. Im selben Jahr zog die Familie in die Sowjetunion. 1938 wurde der Vater erschossen und die Mutter verhaftet. Die Schwestern Marsella, Alice und Vera, Musikstudentin, wurden im September 1942 verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Vera verbüßte sie in Lagern in Kirgisien, Usbekistan, Sibirien und Kasachstan. Musiklehrerin. Lebt im Gebiet Moskau.
Rosa Schowkrinskaja, geb. 1930 in Dagestan. Ihre Schwester und ihr Vater wurden politisch verfolgt, der Vater starb im Lager. Grundschullehrerin. Lebt in Machatschkala.
Olga Zybulskaja (Sorokoumowa), geb. 1935 in Frunse. Tochter politisch verfolgter Eltern: Ihr Vater wurde erschossen, die Mutter war im Lager Akmolinsk für Frauen von „Vaterlandsverrätern“ inhaftiert. Chemieingenieurin. Lebt in Korolew, Gebiet Moskau.

David Budjonny
Anfangs saß ich in Einzelhaft, ganz allein. Das dauerte wohl etwa einen Monat. Allein. Das waren die anstrengendsten Tage, als die Ermittlung lief. Dann legten sie jemanden dazu. Dann noch jemanden. Dann waren wir schon vier. Und da war dann wahrscheinlich, ich habe es nicht mehr genau in Erinnerung, so ein Gewiefter dabei. Richtig, da war so einer. „Weißt du, du kannst doch deiner Mutter eine Nachricht schicken. Man kann es probieren. Eine Nachricht.“ Ich: „Aber wie denn?“ „Hör zu. Schreib, was du willst. Aber auf jeden Fall so, dass man dir daraus keinen Strick drehen kann. Also nicht etwa ‚weg mit Stalin‘ oder so was. Kurz, so, dass es dir weiter nicht schaden kann.“ – „Aber wie soll das weitergegeben werden?“ „Schreib erst mal.“ Irgendwer hatte einen Tintenstift, ein anderer Papier. …
Naja, ich hab diesen Zettel geschrieben. „Und jetzt?“ „Jetzt sieh her.“ Ein Säckchen (in dem vorher Sachen gewesen waren, die man mir gebracht hatte) wurde umgekrempelt, von innen nach außen. Und unten wird mein Zettel befestigt. Dann wird das Säckchen wieder umgedreht. Das heißt nein, noch nicht. Also der Zettel wird festgemacht und das Säckchen nicht umgedreht, sondern der Zettel wird angenäht. Irgendwer hatte Nadel und Faden. Wie können Gefangene so was haben, wo die jeden Tag gefilzt werden. Aber irgendwer hatte es eben doch. Es gab ja Gewiefte. Also Nadel und Faden waren da. Das wird dann unten angenäht, so einen Zentimeter oder anderthalb. Möglichst wenig, damit’s keiner sieht. Es wird eingenäht. Dann dreht man das Säckchen wieder um, und es ist leer.

Nikolai Nastjukow
Ja, sie gaben eine Besuchserlaubnis, aber das war so kurz, so zehn Minuten. Von einer Seite war da so ein Netz, da saßen die Eltern, die Mutter ganz verweint, und innen, in dem Zwischenraum, geht dieser Wachmann oder wer auch immer, in der Regel ein Milizionär oder Wachmann, und auf der anderen Seite des Netzes sitze noch ich und schreie irgendwas.
I. O.: Aber man hört nichts.
Die Mutter weint, sie ist ganz verweint, klar, was soll man ihr sagen. Ja, „hier ist alles gut“ und so was. Da schreist du irgendwas, und das war’s. Einen Besuch hat es gegeben.

Susanna Petschuro
Ich wurde vor dem Transport zu einer Ärztekommission gebracht. Die Ärztin untersuchte mich und sagte: „Das ist sozusagen eine Dekompensation. Sie haben ein Lungenödem. Wohin sollen Sie geschickt werden? Wie werden Sie dahin kommen? Wer ist bei Ihnen zu Hause?“ Ich: „Meine Mutter.“ „Wo wohnt sie?“ Einige Tage später sagte man mir: „Ohne Sachen.“ Und sie brachten mich zu meiner Mama, die zu Besuch gekommen war. Ich sagte ihr, dass alles gut ist, man uns gut behandelt, dass alles bestens ist. Mama weinte nicht, sie war wie versteinert. Der Besuch dauerte 15 Minuten.

Jelena Markowa
Ich kam nach Workuta. Ein Besuch meiner Mama wurde nicht erlaubt. Das ist auch wieder so eine Gemeinheit. 15 Jahre Katorga. Mama kommt ins Gefängnis, und man erlaubt ihr nicht einmal, mich zum Abschied zu sehen.

Olga Zybulskaja
Mama kam zurück. Man hat uns rausgeworfen, wir hatten in einer Direktorenwohnung in Frunse gewohnt. Man platzierte uns im Gartenhaus, wir saßen auf gepackten Koffern, und Mama ging fieberhaft auf Wohnungssuche. Und sie fand etwas ziemlich weit draußen, am Stadtrand von Frunse. Sie brachte uns dorthin und begab sich selbst zu einem Besuch zu Papa. Sie nahm, als ob es ihr nötig schien, alles mit – Wollsachen, eine Uhr, alles, Schokolade… und als sie Papa dann sah und ihn genau betrachtete, merkte sie, dass er sich äußerlich sehr verändert hatte. Und seine Finger waren ganz blau – offensichtlich in Folge der Folterungen. Mama stürzte auf ihn zu und sagte: „Grischa, ich habe dir alles mitgebracht“, er fragte: „Nadja, und was ist mit Tabak?“ Und darauf sie: „Grischa, das habe ich vergessen, ich bringe ihn dir morgen.“ Aber er wusste schon, dass er morgen erschossen würde, man hatte es ihm bereits gesagt.

Nikolai Nastjukow
In einem Lager gab es da so ein Verfahren, der Leiter der Sonderabteilung hatte, um sich sozusagen nicht zu überlasten, Zettel vorbereitet, auf denen geschrieben stand: „Es geht mir gut, ich brauche nichts. Schickt ein Paket.“ Damit er nicht jeden Brief kontrollieren musste, den ein Gefangener schrieb. Er musste den Brief ja kontrollieren, bevor er ihn in die Sonderabteilung schickte.

David Budjonny
…offiziell war das zweimal im Jahr gestattet. Ich meine, einen Brief zu schreiben. Ein Muster für so einen Brief habe ich. Mama hat es aufbewahrt. Bis heute haben wir es. So eine Schablone. Also dass ich lebe, gesund bin und was man so schreibt und so weiter. Was eben sein musste. „Schick mir zum Winter warme Socken, Handschuhe. Dein Paket habe ich bekommen.“ Das war alles. Das passte auf eine Seite. – Außer diesen beiden Briefen – ich habe das ja schon gesagt, dass ich durch Arbeiter welche schicken konnte, wir nannten sie „Freie“. Freie, also freie Angestellte, die im Bergbau arbeiteten. Da gibt es immer Freie. Das waren gute Leute. Ich habe zwei Briefe geschrieben. Naja, ich war ziemlich aufgeregt. Weil ich mich da offener geäußert hatte. Natürlich war ich auch da vorsichtig. Der Brief konnte ja sonstwohin geraten. Damit man mir nicht doch einen Nachschlag gab. – Das hieße ja, noch weitere zehn Jahre dazuzubekommen. Und weil ja auch die anderen etwas riskierten. Sie hätten ja, wenn man sie erwischt hätte, eine Haftstrafe bekommen. Das ist ganz sicher.

Susanna Petschuro
Dann fingen sie an, mir Pakete zu schicken. Das war auch nicht einfach. Die Pakete wurden nur an einer Stelle nahe bei Moskau angenommen. Und sie durften ein bestimmtes Gewicht nicht überschreiten.
I. O.: 8 Kilo.
Ja. Mama hat mir hinterher erzählt, dass mein Vater sich dorthin begeben und eine Nacht angestanden hat, und dann waren es 8 Kilo und 200 Gramm. Es wurde nicht angenommen, und er bekam einen Herzanfall.

David Budjonny
Wenn ich ein Paket bekam, habe ich dem Brigadier immer etwas abgegeben. Nicht, weil ich ihn so gemocht hätte, sondern einfach, weil man mir gesagt hatte, dass sich das so gehört.

Anna Matljuk
Pakete – das war schon in Sibirien. Da gab es Pakete. Briefe schrieben wir einmal im Jahr, nur einen Brief. Und ein Paket. Aber ein Paket, wenn sie die sortiert haben, wissen Sie, wenn ein Paket gekommen war, dann war nur noch wenig davon zu essen übrig. Sie hatten dort schon alles geplündert. Das Bessere hatten sie sich genommen. Also wenn wir sie nicht selbst aufmachten. Sie brachten sie und machten sie auf. Es war immer schon geöffnet. Man konnte es uns nicht einfach so geben. Ich erinnere mich, dass sie mal eins brachten, von dem schon nichts mehr da war. Da war so eine Grütze, aber nicht mal richtige Grütze. Vielleicht haben sie auch was vertauscht. Vielleicht hatte jemand eine gute Grütze, aber diese war schlecht.

Alexei Prjadilow
Das einzige, worum ich gebeten hatte, war Zucker. Zucker. Meine Eltern natürlich, obwohl ich geschrieben hatte, dass sie nichts schicken sollten, dass ich alles hätte, sie haben natürlich die ganze Zeit regelmäßig Pakete geschickt. Aber ein Lager ist ein Lager.
Das heißt, wenn jemand ein Paket bekommt, dann heißt das, dass Du was davon abgibst, oder man nimmt es dir gleich ganz weg. Und du hast Glück gehabt, wenn sie dir nicht eins in die Fresse geben.

Wjatscheslaw Rudnizki
Fünf Jahre hatten sie mich nicht gesehen. Fünf Jahre praktisch ohne Briefe, ein- bis zweimal im Jahr ein Brief. Sie hat mir oft geschrieben und Pakete geschickt, ohne sie, ohne die Pakete weiß ich nicht, was geworden wäre.
Sie schickte mir jeden Monat etwa drei Kilo geräucherten Speck. Aber die Mutter, Mama schickte mir das, und ich bekam natürlich jeden Monat ein Paket – aber was heißt das, Pakete? Das ist so ein Stückchen Speck – das isst man morgens und auf dem Appell, und da ist es grauenhaft kalt, da in Dscheskasgan.

Rosa Schowkrinskaja
Sie schickten den Vater auf Transport. Auf Transport. So haben wir den letzten Brief von ihm bekommen. Mama stellte Pakete zusammen, sie sagte, da gibt es Skorbut, da gibt es dies und jenes. Drei Pakete bereitete Mama vor, sie verlötete diese eisernen Honigkonserven, alles. Aber dann kam Papas Mitteilung, sogar noch vorher. Drei Monate waren das Paket dorthin unterwegs, drei Monate dauerte dann die Rücksendung, und wir bekamen die Pakete wieder zurück. Da war dann schon alles verdorben, und ein Brief war dabei, wo Papa die Natur beschrieb, und dass sie dort eine für das Land so notwendige Eisenbahn bauen.
A. K.: Warum kamen die Pakete zurück?
Offenbar war er schon gestorben. Davon gehe ich aus.

Wladimir Kantowski
Eine Besuchserlaubnis zu bekommen, das ist – ich weiß nicht, wie viele dieser Erlaubnisse erteilt werden, vielleicht zwei im Jahr für das ganze Lager. Naja, und einmal habe ich eine Besuchserlaubnis bekommen.
I. O.: Und wer ist dann gekommen?
Meine Frau.

Alexei Prjadilow
Mein Vater fuhr ins Lager und ging zum Lagerleiter. Dieser war nach der Front dorthin gekommen, er hatte den ganzen Krieg durchgemacht. Sie fanden eine gemeinsame Sprache, mein Vater tauschte mit ihm Erinnerungen aus und so weiter. So wurde meinem Vater außerhalb der Zone ein Häuschen zugeteilt, das einem Vorarbeiter gehörte. Nach dem Morgenappell brachte man mich zur Arbeit, und ich ging zum Vater in dieses Häuschen. Von Arbeit war keine Rede, wir verbrachten einen ganzen Tag zu zweit in diesem Häuschen. Nur wir zwei, keine Aufseher, niemand sonst war da. Der Vater sah mich an und sagte: „Weißt du, wir hatten es schlechter“ (lacht). „Wir mussten aus Pfützen trinken und uns ernähren – uns mit Pferdeleichen und so weiter ernähren. Und hier bei euch ist alles so einigermaßen.“

Vera Chudjakowa
Die Quarantäne – das war einfach so ein Häuschen, wo wir auf dem Boden lagen, zwei Wochen mussten wir da bleiben. Das Essen wurde uns dorthin gebracht. Wir warteten ab. Und eines Abends … Es gab da keinen Unterricht. Aber alle waren intelligent. Sie ging nach draußen. Man durfte nirgendwohin gehen. Naja, sie wollte ein wenig vor der Tür stehen. Sie ging raus, dann kam sie wieder und winkte mich zu sich. Ich stand auf, ging zu ihr, sie sagte: „Gehen Sie auf die Straße hinter dieses Häuschen.“ Ich ging raus und um das Haus herum – und da saß meine Schwester. Sie hatte mich gefunden. Sie hatte immer in Erfahrung gebracht, wann ein Transport ankam und war dann zur Quarantäne gegangen, um zu gucken. So hatte sie es viele Male gemacht. Und schließlich war ich da. – Und sie kam jeden Tag zu mir in diese Quarantäne. Jeden Abend kam sie, und ich ging raus zu ihr. Und in ihrer Baracke hatten die Frauen mitbekommen, dass ihre Schwester gekommen war, sie gaben ihr mal ein Stück Brot, mal was anderes. Also sie gaben es ihr für mich. Das war sehr rührend.

Juri Fidelgolz
Und plötzlich, im Sommer, als wir uns von der Arbeit ausruhten, riefen sie mich plötzlich in die Arbeitszone und sagten – „Schnell, in der Wache wartet Ihre Mutter“. Und ich nahm die Beine in die Hand, ich war verschmiert, in Fetzen, ganz schmutzig, ungewaschen, mit Nummern, diesen hier auf der Mütze und dem Rücken, bin ich gelaufen. Und natürlich hatte ich so ein unbestimmtes Gefühl in dem Moment. Der Sergeant hatte mir, bevor ich zur Wache ging, gesagt: „Sie dürfen nicht über das Lager sprechen und nicht über Ihre Straftat.“ Und er erklärte: „Sie dürfen sich nicht zu nahekommen. Sonst wird der Besuch sofort abgebrochen, dann ist es aus.“ Und dann haben sie mich auf den Stuhl gesetzt, es war so eine Barriere vor mir, die sich öffnet und schließt, wissen Sie, wie eine Bahnschranke bei der Eisenbahn, und dann kam meine Mutter. Ja, und ich sah sie und ich hatte nichts, worüber ich reden konnte, und sie auch nicht. Ich sehe sie, ihr Gesicht, ihre Backen zittern. Dann stellte sie einen Korb in den Zwischenraum zwischen dieser Barriere und dem Boden und sagte: „Iss. Ich habe dir was Leckeres aus Moskau mitgebracht.“ – Da hielt ich es nicht mehr aus, ich schob diese Schranke weg und schloss sie in die Arme, drückte sie an mich, aber man trennte uns, das war‘s, der Besuch war beendet. Als ich in die Zone ging, war die ganze Zone in Aufruhr. „Deine Mutter ist gekommen, die Mutter, deine Mutter ist zu Dir gekommen!“ Und alle, auch die Antisemiten und Bandera-Anhänger, alle, alle standen auf und kamen zu mir, und ich stand da mit diesem Korb, und keiner nahm mir auch nur ein Gramm davon weg oder hätte auch nur um etwas gebeten. Alle verstanden, dass er von meiner Mutter war.

Susanna Petschuro
Schenja wurde vom Schacht ins Krankenhaus gebracht. Man sagte ihm: „Hörst du, hier in der Frauenzone ist so ein Mädchen. Scheint’s aus Moskau.“ Er schrieb einen Zettel. Durch den Zaun, da ist ein Spalt im Zaum – das ist ein Heiligtum, unsere Post – gab er den Zettel durch, es stand drauf: „An das Mädchen aus Moskau. Wer den Zettel bekommt, bitte weitergeben.“ Und man brachte mir den Zettel. Da stand. „Ich bin der und der. Wenn Sie keine Angst haben und wenn Sie möchten, schreiben Sie mir.“ Ich schrieb ihm sofort: „Natürlich habe ich keine Angst, natürlich möchte ich. Natürlich, guten Tag und Gott sei Dank.“ – Und wir fingen an, uns zu schreiben. Jeden Morgen und jeden Abend gelang es Schenka irgendwie, einen Zettel durchzustecken. Und dann – erstens schrieb er mir Gedichte. Zweitens verlangte er von mir kategorisch, dass ich lernen sollte. Er sagte: „Es ist egal, was uns später erwartet. Noch sind wir Menschen. Sie wollen aus uns Tiere machen. Das wird nicht gelingen.“ – „Wir lassen uns nicht zu Tieren machen.“ Und er stellte mir Aufgaben. Die musste ich lösen und ihm zurückschicken. Und er schrieb dann „Richtig“ oder „Falsch“. Wenn es falsch war, dann weshalb. Er zwang mich, Aufsätze zu schreiben. – Wir kamen überein, dass wir uns trotz allem sehen sollten. Wir sahen uns zwar auf der Wache, wenn die Brigaden zur Arbeit geschickt wurden. Aber das ist nur von Weitem. Und alle sehen gleich aus. Also dachten wir uns was aus. Ich sage, ich muss ins Kleiderlager. Dorthin werden die Frauen nachts gebracht. Es ist ein gemeinsames Kleiderlager. Und dort fingiere ich eine Ohnmacht. Und er verabredete mit einem Arzt unter den Häftlingen, den er kannte, dass dieser ihm seinen Kittel lieh. – Als ich in Ohnmacht war, rief die Frau, die mich begleitete, „Holt einen Arzt!“ Dann kam er. Es war unser erstes Treffen. Er kam in diesem Kittel. Er sagte: „Bringen Sie sie nach draußen, setzen Sie sie auf die Bank. Hier ist es sehr stickig. Dort wird sie zu sich kommen. Ich sage Ihnen, wenn es so weit ist.“ Sie setzen mich auf die Bank. Wir haben uns so etwa 15 Minuten auf der Bank unterhalten. Dann sagte er. „Sie werden Verdacht schöpfen. Ich gehe und sage Ihnen, dass es dir schon besser geht.“

Maria Sewortjan
Endlich, es hatte fast ein halbes Jahr gedauert, wahrscheinlich war ein halbes Jahr vergangen, bis alles erledigt war, und dann erlaubten sie uns Gott sei Dank einen Besuch. Sie können fahren… Wir fuhren, am 20. Juni kamen wir schließlich in diesem Scharyk an. – Soweit ich mich erinnere, war das ein ziemlich großes Zimmer. Oder es scheint mir so, einfach weil ich kleine Schritte machte. – Ich ging – wir gingen hinein. Zuerst ich voraus, dann irgendwo hinter mir Tante Sonja. Also wir gehen hinein. Wir denken, „was er uns jetzt sagt, wissen wir noch nicht“. Und plötzlich sehe ich – also ich öffne die Tür zu diesem Kabinett, da sind Stühle, ein Tisch, und am Ende am Fenster stehen sie – steht ein Mann, dieser Lagerleiter, und eine Frau bei ihm mit dem Rücken zu mir. Ich sah hin – da ist niemand. Wo ist Mama – ich sehe Mama nicht – Diese Frau dreht sich um und schreit plötzlich: „Frosetschka“, Sonjetschka“. Und sie, sie geht voran, sie geht zu ihr. Und sie fallen sich in die Arme, fangen sofort an zu weinen. Nichts als Weinen. Und ich stehe da wie ein Dummerchen. Ich verstehe gar nichts. Wo ist Mama überhaupt? Und dann gehe ich hin und sehe, ja, das ist wirklich meine Mama. Meine Mama, aber es ist überhaupt nicht die Mama, die sie gewesen war. Meine Mama war jung und hübsch. Sie war 32, 8 – sie war 36 übrigens. Aber damals war sie schon 38. Wenn das im Jahre 1940 war, 1941… Plötzlich sehe ich sie an und fange an zu heulen: „Mama! Wie siehst du aus, bist du alt? Du bist grau!“ Ich fing an, zu ihr zu sprechen. Sie sagt: „Kindchen! Was soll das, so ein Blödsinn, dass ich grau bin. Ich kann mir doch die Haare färben. Ich werde wieder jung sein. Was ist denn, was soll das, das ist doch völliger Unsinn. Das macht doch nichts.“ Und ich: „Nein…“ und ich fange an – Und ich – überhaupt, das ist schwer, in Worten wiederzugeben, weil man dafür so ein dummes Mädchen sein muss. Eijeijei. – Und ich erinnere mich sehr gut an seine Reaktion, an die Reaktion dieses Mannes. Er stand dabei und sah sich das alles an, diese Szene, und ihm liefen die Tränen. Ja, da heißt es, dass die Männer nicht weinen. Dabei weinen sie, ja sogar wenn sie fremdes Leid sehen, weinen sie. … Ja

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)
Wiktor Griberman (Riga)
Andrej Kostjanow (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Dr. Vera Ammer (MEMORIAL – Euskirchen)

© MEMORIAL International 2012

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