Drehbuch: Ioanna Murejkene erinnert sich:
Wir schrien: „Freiheit oder Tod!“

Ioanna Ulinauskajte wurde 1928 in Kaunas geboren. Nach dem Beitritt Litauens zur Sowjetunion im Jahr 1940 begannen Massenverhaftungen. Ioannas Vater, Kasimiras Ulinauskajtis wurde auch verhaftet und verbüßte seine Haftzeit in den Lagern von Workuta. Seine Familie wusste nichts von seinem Schicksal. 1944, nach dem Einmarsch der Roten Armee, unterstützte Ioanna den antisowjetischen Widerstand, wurde verhaftet und zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt. Ihre Haftzeit verbüßte sie in der Republik Komi, Taischet (Sibirien) und Norilsk (Region Krasnojarsk). Am Lageraufstand in Norilsk war sie aktiv beteiligt. Im Oktober 1956 wurde Ioanna Ulinauskajtes Urteil revidiert, da sie als Minderjährige verhaftet worden war, sie wurde aus der Haft entlassen und kehrte nach Litauen zurück. Sie begann ein Medizinstudium und wurde Kinderärztin. Seit 1959 verheiratet, zwei Kinder..

Sowjetische Okkupation; Verhaftung des Vaters, Januar 1941

Ich erinnere mich, wie 1940 die sowjetischen Truppen einmarschierten. Wir wohnten in der Nähe der Fernstraße Kaunas-Vilnius. Und auf dieser Straße fuhren Fahrzeuge mit Soldaten, die Lieder sangen. Sie waren mit Staub bedeckt. Nun, die Strecke war lang. Wir haben alle gratuliert. Andere weinten und sagten, dass es schlimm würde. Aber uns Kindern ging es gut.

Wir hatten eine große Küche und ein Wohnzimmer. Es war ein großes Durcheinander, Kleidung, Bücher… Vater hatte viele Bücher und las viel. Alles lag wild auf dem Boden. Die Schwester schreit, weint, und Mama sitzt auf dem Stuhl und starrt auf einen Punkt. Als ich reinkam, fragte ich: „Was ist passiert?“. Und meine Schwester antwortet: „Papa wurde verhaftet“. Da setzte ich mich neben die Tür.

Nachdem Papa verhaftet worden war, habe ich ihn bis 1954 nicht wiedergesehen. Er wurde verurteilt und wir suchten ihn, wussten nicht, wo er war. Mama überbrachte die Post. Anfangs wurde die Post entgegen genommen, aber später weigerten sie sich. Und da wussten wir nicht mehr, wo er war. Und er war damals im Fort IX. Dort wurde keine Post angenommen, nichts…

Deutsche Besatzung 1941-1944

Als die Deutschen einmarschierten, hatten wir schon begonnen, die Gefängnisse nach Vater abzusuchen. Da einige Leute aus den Gefängnissen oder aus Fort IX zurückkehrten.

Uns wurde gesagt, man würde die erschossenen Gefangenen wieder ausgraben. Unweit von Kaunas, in Petroschunas wurde eine Fläche abgezäunt, und dorthin, in diesen Wald wurden die Leute gefahren.

Meine Mutter hat mich mitgenommen und gesagt: „Vielleicht erkennst du ihn schneller“. Die Ausgrabung machten Juden. Sie hoben die Leichen heraus und legten sie an den Rand. Jeder ist herangetreten mit einem Taschentuch. Ich habe mir auch jeden angesehen. Das hat mich sehr bewegt. Wenn jemand einen Angehörigen fand, ertönte lautes Weinen. Särge standen bereit, und dort wurden sie hineingelegt und zur Beerdigung gefahren. Unseren Vater konnten wir dort jedoch nicht finden.

Einmarsch der sowjetischen Truppen.
Widerstand gegen das sowjetische Regime

Als die Front näher rückte, war ich schon 15 Jahre alt.

Unsere Männer wurden in die Armee eingezogen, aber die wollten nicht und versteckten sich im Wald. Viele unserer Bekannten gingen in den Wald. Ich fuhr häufig in das Dorf, in dem Mama geboren war. Ich hatte beschlossen meinen Vater zu rächen. Im Wald wurden Flugblätter herausgegeben. Ich fuhr in das Dorf, nahm die Flugblätter mit und verteilte sie im Gymnasium und unter Bekannten. Meine Mutter wusste nichts davon.

Einmal erwischte mich Mama mit diesen Flugblättern. Sie flehte mich an, aber ich hörte nicht auf sie. Sie machte sich solche Sorgen und bat: „Fahr von zuhause weg, in Dorf, irgendwohin, zu Verwandten.“ Aber ich wusste, wenn ich wegfahren würde, würde man Mama verhaften. Und was sollte dann aus den kleinen Geschwistern werden? Deshalb fuhr ich nicht aufs Dorf, sondern wartete bis sie kamen und mich verhafteten. 1945 wurde ich von der Spionageabwehr verhaftet.

Verhaftung. Sowjetisches Lager

Die Verhöre wurden immer nur nachts durchgeführt. Tagsüber durften wir nicht schlafen. Wir erhielten kein Bettzeug, nichts. Wir lagen auf dem Zementboden. Ich wurde im Herbst verhaftet, als ich einen Herbstmantel und Absatzschuhe trug. Weiter nichts. Es war so kalt, dass man nicht einschlafen konnte. Und tagsüber verhinderte der Aufseher, dass man einschlief. Immer: „Nicht schlafen. Sitzen oder stehen oder sitzen.“ Und sobald die Nacht anbrach, wurde man zum Verhör geführt. Über 14 Personen wurde zu Gericht gesessen. Der Prozess dauerte drei Tage und drei Nächte.

Wir wurden in Waggons verladen. Pro Waggon 50 Leute, es war sehr eng. Es war Februar und sehr kalt. Die Waggons waren mit Reif überzogen. Zwei Wochen sind wir bis Petschora gefahren. Wir wollten dringend etwas trinken, weil es nur Sardellen zu essen gab.

Es gab verschiedene Arbeiten. Wir mussten Waggons ausladen. Das war eine schwere Arbeit. Wenn Bretter geliefert wurden, mussten wir diese ausladen. Wenn Kohle geliefert wurde, wurde es ganz schlimm. Kam ein Waggon mit Kohle, musste diese mit Schaufeln ausgeladen werden. Wir kehrten ganz schwarz und staubbedeckt wieder. Schlimm waren auch die Zementlieferungen. Der Zement wurde in Säcken geliefert, die Säcke rissen, trotzdem musste der Zement ausgeladen werden. Wir atmeten diesen Zement ein, die Augen röteten sich, hatten ihn in den Haaren… das war sehr schwer. Man legte mir so einen Sack auf die Schultern und ich brach unter ihm zusammen. Alle lachten: „Komm schon! Wirst dich dran gewöhnen.“ Und tatsächlich… nach und nach… zuerst fiel ich, dann begann ich gebückt zu laufen… und später konnte ich mich aufrichten und mit dem Sack laufen.

Der Lageraufstand von Norilsk. April 1953

April 1953. Die Ukrainer begannen zu singen. Der Kommandeur, ein Unteroffizier mit Gewehr, kam und befahl mit dem Singen aufzuhören. Aber sie haben weitergemacht und nicht auf ihn gehört. Da hat er sein Maschinengewehr genommen und auf alle geschossen. Die Baracken waren aus Brettern, mit Schlacke abgedichtet und sehr kalt im Winter. Auf den Pritschen saßen einige Männer, andere am Tisch, die Kugeln gingen durch die Bretter und töteten sie. Da haben die Männer Weisung gegeben, die Sirenen anzustellen und verkündeten den Streik. Zuerst war es ein Streik. Es war Nacht und wir arbeiteten auf dem Bau in Baugruben und hörten plötzlich, dass die Fabriksirenen angingen. Wir fragten: „Was ist los? Was ist passiert?“ Da riefen die Männer aus ihrer Zone zurück: „Frauen, hört auf zu arbeiten! Es ist Streik!“

Die Küche wurde sofort geschlossen, Tür und Fenster mit Brettern vernagelt, das Essen ausgeschüttet. In den Kesseln rausgetragen und auf den Boden geschüttet. Wir kochen nicht mehr, wir nehmen keine Nahrung mehr auf. Wir traten in den Hungerstreik und gingen nicht mehr zur Arbeit.

Das waren die Forderungen: keine Gitter mehr vor den Fenstern, nachts sollten die Fenster nicht mehr verschlossen werden, Briefe sollten erlaubt sein, ein freier Tag am Sonntag, da wir ohne Ruhetage durcharbeiteten.
I. O. Und die Nummern?
I. M. Die Nummern sollte man nicht mehr tragen müssen. Das Leben sollten verbessert werden, man sollte nicht mehr über uns herziehen und die Arbeitszeit auf 8 Stunden begrenzen.

Es vergingen ca. 2 Wochen, in denen wir so lebten. Eines Nachts kamen sie im LKW, packten jene an den Beinen, die am Tisch saßen, verluden sie auf die LKW und fuhren sie weg. Das Gleiche vollzog sich auch bei den Männern. Wieder die Sirenen, wieder gehen wir nicht zur Arbeit. Erhalten Gefängnisnahrung: 400 Gramm Brot, Suppe, Tee, so wie im Gefängnis.

In Norilsk hingen an allen Kränen rot-schwarze Flaggen. Auch in der 5. Männerzone sahen wir, als wir aufs Dach geklettert waren, eine Flagge hängen. Wir gehen nicht zur Arbeit. Das ist schon kein Streik mehr, das ist jetzt…
I.O. …ein Aufstand.
I. M. Nun haben wir den Aufstand verkündet, keinen Streik mehr. Man sollte nicht denken, dass wir nur streikten. Wir bitten nur um den Tod, Freiheit oder Tod! So war das. Sobald sie mit uns zu reden anfingen, haben alle 4000 von oben gerufen: „Freiheit oder Tod! Freiheit oder Tod!“

Sie schreien, aber wir schreien noch lauter. Wenn 4000 Frauen schreien… Wir sehen, wie sie sich vorbereiten. Und wir begannen uns vorzubereiten. Wir haben dann alle Kranken und Alten in zwei Baracken untergebracht und uns um diese Baracken in 4 Reihen aufgestellt und untergehakt. So standen wir die ganze Nacht. Sie schrien, schnitten die Absperrungen durch, schafften Durchgänge und sagten: „Kommt raus, wir haben euch Durchgänge gemacht. Geht durch oder wir schießen.“ Aber wir bleiben stehen und rufen: „Freiheit oder Tod!“
Und wissen Sie, was passierte? Von den vielen Frauen, Russinnen, Polinnen, Deutschen, Ukrainerinnen, Litauerinnen, Estinnen und Lettinnen ist keine aufgestanden und hinausgegangen.

Sie: „Kommt raus!“ Und wir: „Schießt doch! Schießt auf uns.“ Und dann fingen sie an. Nachts, gegen 4 Uhr kamen sie mit Feuerwehrautos und bewarfen uns mit Sand und Wasser. Der Sand geriet in die Augen und überall hin. Und durch den starken Wasserstrahl wurde der Kreis aufgebrochen. Und nachdem der Kreis aufgebrochen war, kamen die Soldaten und begannen uns zu schlagen. Da wir untergehakt standen, schlugen sie uns auf die Köpfe.

In Gruppen transportierten die Soldaten uns und die Männer weit in die Tundra hinaus. Wir laufen und ich erinnere mich an das Haus, an Mama, dass sie umsonst auf mich wartet. Ich erinnerte mich an mein ganzes Leben, wie es verlaufen war und nun zu Ende war. Sie führen uns hinaus in die Tundra um uns zu erschießen. Die Sonne ist so schön, es ist morgens, die Sonne scheint. Man möchte leben, aber was soll man machen? So wurden wir weit hinaus geführt und dann wurden wir wieder auf die Autos verladen und zurück in die Stadt gefahren.

Befreiung, Oktober 1956

Ich bin dann bald freigekommen. Damals wurden die Urteile revidiert. Ich wurde minderjährig verhaftet. Dann wurden die Minderjährigen freigelassen. Und mein Fall als Minderjährige wurde neu verhandelt. Die Richter kamen direkt ins Lager und ich kam frei.
I.O. Wieviel früher kamen Sie denn frei?
I.M. Ich habe genau 9 Jahre abgesessen.

Mutter war nicht mehr wie früher. Alles war anders. Die Menschen gingen weiterhin durch die Stadt, Autos fuhren. Doch als ich am Haus ankam, von dem ich fortgefahren war, schien das Haus nicht mehr so groß. Und der Hof nicht mehr so groß. Und Mama schien kleiner. Mama war hochgewachsen und ich war jetzt sogar größer als sie. Und als ich ihr zu Füßen fiel, sagt Mama nur: „Alles wird gut. Jetzt wird alles gut. Weine nicht. Alles wird gut.“

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Wiktor Griberman (Riga)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Irina Raschendörfer (MEMORIAL – Berlin)

© MEMORIAL International 2011

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